So schlägt sich Hendrik Wüst als Ministerpräsident
Stand: 28.06.2023, 19:57 Uhr
Vor genau einem Jahr wurde Hendrik Wüst von CDU und Grünen als NRW-Ministerpräsident gewählt. Er vermeidet Fehler und Polarisierung. Bislang geht seine Strategie auf. Doch nun wird es ungemütlicher.
Von Niklas Schenk und Jochen Trum
Mitte Juni, auf dem Firmengelände von ThyssenKrupp in Duisburg, demonstrieren gut 10.000 Stahlarbeiter. "Unser Herz aus Stahl hat eine grüne Zukunft", steht auf ihren grünen Westen. Die Stimmung ist aufgeheizt, die Arbeiter wollen mehr Geld für klimaneutrale Wasserstoff-Anlagen.
Hendrik Wüst und seine schwarz-grüne Landesregierung haben 700 Millionen Euro Landesförderung zugesichert für den klimaneutralen Industrieumbau, es ist eines der Hauptziele der Koalition. Dementsprechend freundlich wird Wüst hier empfangen. Einen Stahlhammer, den ein Gewerkschafter mitgebracht hat, reckt er auf der Bühne symbolisch in die Höhe. Später zieht er sich ein T-Shirt über, auf dem steht: "Stillstand hat noch nie was gebracht". Gute Bilder für die vielen Fotografen und Kameras in der Nähe.
Gute Bilder, flüchtige Botschaften: Darauf setzt Wüst
"Er kalkuliert die Oberflächlichkeit der Politik gut ein", sagt WAZ-Journalist Tobias Blasius, der im Herbst ein Buch über Wüst veröffentlichen wird. "Eine Politik, die stark auf Bilder setzt, auf flüchtige Botschaften, die aber nicht so sehr in die Tiefe geht. Deshalb steht er nach einem Regierungsjahr viel besser da als andere." Mit Wüst verbinde man deshalb keine Probleme, sondern das Bild des "smarten, freundlichen Landesvaters", so Blasius.
Zur Landtagswahl im Mai 2022 kam Wüst mit dem Kinderwagen, Tochter Philippa und Frau Katharina im Schlepptau. Seine Neujahrsansprache hielt er in einem Gasthaus für Alleinstehende. Die Bekämpfung der Einsamkeit hat er ganz oben auf seine Agenda gesetzt, Fototermine nimmt er vor allem in Schulen und Kitas gerne wahr. "Er gibt sich präsidial, setzt auf Fehlervermeidung und spielt Everybody's Darling", sagt Politikwissenschaftler Martin Florack.
NRW-Trend: Unzufriedenheit steigt, die Grünen bekommen es zu spüren
Wüsts Kalkül geht bisher auf. Zwar ist die Unzufriedenheit mit ihm persönlich und mit der Landesregierung im aktuellen NRW-Trend gestiegen, aber in den Umfragen liegt die CDU in NRW unverändert bei 32 Prozent und wäre damit weiter klar stärkste Kraft - während die Grünen auf 16 Prozentpunkte abstürzen und nur noch knapp vor der AfD liegen. Und immerhin 40 Prozent aller Befragten im NRW-Trend halten Wüst für geeigneten Kanzlerkandidaten, deutlich mehr als Friedrich Merz oder Markus Söder.
Profilieren konnte sich Wüst vor allem bundespolitisch durch die Leitung der Ministerpräsidentenkonferenz. Diese Rolle übernahm er als NRW-Ministerpräsident - und bekam so in Pressekonferenzen zu Corona und Ukraine-Krieg viel Aufmerksamkeit. Wüst gibt sich hier gerne staatsmännisch, setzt auf klare Botschaften wie: "Der Unberechenbarkeit des Virus müssen wir die Verlässlichkeit der Politik entgegensetzen".
Wüst als Gegenspieler der Ampel
Von Düsseldorf aus positioniert sich Wüst als Gegenspieler der oft zerstrittenen Ampel-Koalition im Bund. Er fordert regelmäßig mehr Geld für die Kommunen vom Bund, etwa bei der Unterbringung von Flüchtlingen - und er grenzt sich im Stil von der Ampel ab. "Ich sehe keinen Sinn darin, mit Showeffekten in Streiereien zu arbeiten, wie es die Ampel in Berlin macht. Wir haben einen anderen Regierungsstil. Wenn wir Themen zu klären haben, machen wir das intern, in der Sache orientiert und fangen nicht an, auf die Pauke zu hauen und Profilierungsschlachten zu kämpfen. Das sieht geräuschloser aus, ist aber gut so."
Tatsächlich gibt es kaum öffentlich ausgetragene Konflikte zwischen Schwarz und Grün - obwohl es dazu im ersten Jahr durchaus Gelegenheit gegeben hätte. Der erste Haushaltsentwurf etwa wurde vom Landesrechnungshof als verfassungswidrig bezeichnet - eine Blamage für CDU-Finanzminister Optendrenk. Die Räumung des Weilers Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier stellte vor allem die Grünen vor eine Zerreißprobe - und das Zentralabitur musste nach einer Download-Panne verschoben werden.
Bei kritischen Fragen geht Wüst auf Distanz
Wüst hält sich bei Konflikten möglichst heraus, überlässt den Fachministern das Feld. Selbst bei einer aktuellen Stunde zur Rahmedetalbrücke, wo es ja auch um Wüsts Verantwortung als NRW-Verkehrsminister 2017-2021 geht, schickte er Verkehrsminister Oliver Krischer vor. "Er hat eine virtuose Fähigkeit entwickelt, sich große Probleme vom Leib zu halten", sagt Wüst-Biograph Tobias Blasius. "Wenn wir uns die großen Krisen des ersten Jahres anschauen, sehen wir nirgendwo Wüst. Er bleibt auf Distanz, immer wenn es brenzlig werden könnte."
Dieses Verhalten nimmt die Opposition auf Korn. Wüst sei kein "aktiver Gestalter" und regiere das Land "im Schlafwagen", kritisiert SPD-Fraktionschef Jochen Ott. Auch FDP-Chef Henning Höne wirft der Koalition Stillstand vor, Wüst selbst entpolitisiere das Land. Der Ton wird rauer für Wüst, der im ersten Jahr mit Schwarz-Grün kaum Attacken der Opposition parieren musste - da insbesondere die SPD nach ihrem katastrophalen Wahlergebnis mit sich selbst beschäftigt war.
Merz vs. Wüst: Die Kanzlerfrage in der Union sorgt für Diskussionen
Der früher oft ungestüme, rauflustige Wüst pflegt inzwischen sein Image als fürsorglicher Landesvater. Jedes seiner Worte ist überlegt, deshalb spricht er oft stockend, um ja keinen Fehler zu machen. Umso erstaunlicher ist es, dass er seit Wochen Schlagzeilen macht mit seinem Verhältnis zu Friedrich Merz.
Die über mehrere Wochen vorgetragenen Spitzen gegen den Unionschef verdichteten sich plötzlich zum Bild eines ehrgeizigen Angreifers, der selbst die Kanzlerkandidatur für sich beansprucht. Auslöser war ein Gastbeitrag in der FAZ. "Das Herz der CDU schlägt in der Mitte" lässt sich eben auch lesen als Fundamentalkritik am Kurs von Partei- und Fraktionschef Merz.
Merz keilt zurück
Wüst gilt als Angehöriger des liberalen Flügels der CDU, setzt sich gerne als Anti-Merz in Szene, etwa bei der Verleihung des NRW-Staatspreises an Angela Merkel. Freundliche Worte über Merz kommen ihm hingegen selten über die Lippen. Der Versuch, die eigene Bedeutung als Ministerpräsident zu heben, sich zu profilieren, zur Not auch gegen andere, drohte außer Kontrolle zu geraten - ausgerechnet ihm, dem Kontrollfreak, der kein öffentlich gesprochenes Wort dem Zufall überlässt . Von drohender Demontage war die Rede.
Vielleicht hat Wüst die Gereiztheit von Merz unterschätzt. Dass der auf einmal, zur besten Sendezeit im ZDF, zurückkeilte, indem er Wüst die hohen Umfragewerte der AfD auch in NRW vorhielt, war womöglich nicht eingeplant. Prompt drohte die Debatte zu einem handfesten Krach zu werden, zur absoluten Unzeit aus Sicht vieler in der CDU.
Auf ein Entspannungsbier mit dem "lieben Friedrich Merz"
Erst als Merz und Wüst auf dem Sommerfest der NRW-Landesregierung in Berlin vergangene Woche gemeinsam demonstrativ Bier tranken, setzte die parteiinterne Entspannungspolitik ein. Als "lieber Friedrich Merz" hatte der Gastgeber ihn zuvor vor mehr als 1500 Gästen begrüßt.
Kurz darauf dann in Düsseldorf nutzte Wüst eine gemeinsame Pressekonferenz mit seiner Koalitionspartnerin, der grünen Wirtschaftsministerin Mona Neubaur, für eine regelrechte Charmeoffensive. Es fielen Sätze wie "Friedrich Merz hat recht" oder "Ich sehe das auch so" mit Blick auf die Herausforderung durch die AfD. Mit Blick auf das geplante neue CDU-Grundsatzprogramm sprach Wüst gar davon, es sei "das große Verdienst von Friedrich Merz als Parteichef", den Prozess für unterschiedliche Positionen geöffnet zu haben. Wüst zog so die verbale Notbremse.
Die K-Frage und das a-Wort
Auf die Frage, ob er nun Kanzler werden möchte oder nicht, antwortet Wüst weiterhin gerne, dass seine Aufgabe "aktuell" in NRW liege. Das lässt Raum für Spekulationen. Ausschließen wird er es wohl öffentlich nicht, um nicht als ambitionlos zu gelten - so wie es Vorgängerin Hannelore Kraft zum Verhängnis wurde.
Sollte Fraktions- und Parteichef Merz tatsächlich Kanzler werden wollen, dürfte ihm eine Kandidatur kaum zu nehmen sein. Wüst selbst ist zwar schon seit mehr als 30 Jahren in der Politik, aber trotzdem mit 47 Jahren noch jung. Er hat noch Zeit, kann weiter in NRW regieren und später nach der Macht im Bund zu greifen. Sein erstes Jahr mit Schwarz-Grün hat er aber erfolgreich genutzt, um sich zu profilieren und ins Spiel zu bringen.