Kinder gefährdet: Jugendämter überlastet

Aktuelle Stunde 23.01.2024 03:24 Min. UT Verfügbar bis 23.01.2026 WDR

Jugendämter in NRW: Überlastung als Dauerzustand

Stand: 23.01.2024, 21:16 Uhr

Die Jugendämter in NRW arbeiten am Limit. Missbrauchsfälle wie in Lügde und Münster hatten Defizite aufgezeigt. Neue Recherchen zeigen nun ein erschütterndes Update.

Personalmangel, pandemiebedingte Mehrbelastung, zu viel Einzelfälle für die jeweiligen Sachbearbeiterinnen und -bearbeiter. Das ist in Kurzform das Ergebnis einer aufwendigen WDR-Recherche aus dem November 2022, für die alle Jugendämter in NRW angefragt wurden. Denn nicht zuletzt die Fälle von sexualisierter Gewalt in den Tatkomplexen von Lügde und Bergisch Gladbach hatten Defizite aufgedeckt.

Am Dienstag berichtet das ARD-Magazin Report aus Mainz, dass es diese Überlastung der Jugendämter bundesweit gibt: Alle knapp 600 Jugendämter in Deutschland wurden angefragt, mehr als die Hälfte antwortete. Fast jedes vierte Amt hat demnach anonym eingeräumt, dass es wegen der Überlastung zur Gefährdung von Kindern oder Jugendlichen gekommen ist.

Kinderschutzambulanz Bergisch Land e.V.: Jugendämter sehr aktiv

In Remscheid befindet sich die ärztliche Kinderschutzambulanz Bergisch Land e.V., sie kümmert sich um Kinder und Jugendliche, die körperliche Misshandlungen, sexualisierte Gewalt, Vernachlässigungen oder auch emotionale Gewalt erleiden mussten. Die Ambulanz ist offen für Fälle aus ganz NRW, entsprechend groß ist der Erfahrungshorizont der Leiterin Birgit Köppe-Gaisendrees.

Sie bestätigt im Gespräch mit dem WDR die große Personalnot der Jugendämter. Ebenfalls problematisch sei die Personalfluktuation, die dazu führe, dass die Kinder, denen es ohnehin schwerfalle, Vertrauen zu fassen, wieder mit anderen Personen zu tun hätten. Aber trotz all dieser Probleme erlebt Köppe-Gaisendrees die Jugendämter als "sehr aktiv" und "sehr bemüht".

Bergisch Gladbach: "Extrem hohe Fallzahl pro Fachkraft"

Immer wieder befassen sich die Kommunalparlamente mit der Situation der Jugendämter. Im Mai 2023 informierte beispielsweise das Jugendamt in Bergisch Gladbach den Stadtrat über die prekäre Personallage. Demnach waren Anfang März 2023 im Allgemeinen Sozialen Dienst der Bezirkssozialarbeit 27 Prozent der Stellen nicht besetzt.

Wörtlich heißt es in einer Vorlage für den Rat in Bergisch Gladbach: "Urlaubs-, Abwesenheits- und Krankheitsvertretungen führen zeitweise zu extrem hohen Fallzahlen pro Fachkraft. Das dauerhaft hohe Arbeitsvolumen im schnelllebigen Dienstgeschehen mit den damit einhergehenden Belastungen führt aktuell zu einem erheblichen Anstieg des Bedarfes an Teilzeitbeschäftigung. Im Rahmen einer Vollzeittätigkeit ist das Arbeitsaufkommen psychisch kaum zu bewältigen."

Obwohl im ersten Quartal 2023 sieben neue Mitarbeitende in der Bezirkssozialarbeit eingestellt werden konnten, sei die Lage weiterhin angespannt. Das Fazit des Jugendamtes lautete darum, es könne "derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass sich die angespannte Personal- und Arbeitssituation auch auf das Gefährdungsrisiko der jungen Menschen und Familien in Bergisch Gladbach auswirkt".

Beispiel Dinslaken: Tod einer Dreijährigen

Ein besonders erschütternder Fall hatte sich im Herbst in Dinslaken ereignet: Eine Dreijährige war in der Obhut ihrer Eltern gestorben, sie war zuvor grausam gequält worden. Das Jugendamt war mit dem Fall befasst. Die Staatsanwaltschaft Duisburg ermittelt aktuell gegen das Jugendamt wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung.

Gefährdete Kinder übernachten im Jugendamt

Wer sich mit der Lage der Jugendämter im Land befasst, stößt in ein Wespennest aus Unzulänglichkeiten. Personalmangel in den Jugendämtern ist das eine. Die Überlastung des vorhandenen Personals, weil viel zu viele Fälle bearbeitet werden, ist das nächste. Und verschärft wird diese Lage dadurch, dass für Kinder in Not geeignete Unterbringungsmöglichkeiten, auch Inobhutnahmestellen genannt, fehlen.

So berichteten fast ein Viertel der Jugendämter, die auf die Report Mainz-Anfrage antworteten, dass deswegen 2023 Kinder in den Räumlichkeiten der Jugendämter oder sogar bei Privatpersonen oder Mitarbeitern des Amtes übernachten mussten.

Inflation und Wohnungsnot verschärfen die Lage

Dass die Jugendämter überhaupt so viel zu tun haben, liegt nach Auffassung des Jugendamts in Bergisch Gladbach auch daran, dass junge Menschen und ihre Familien "im Hinblick auf gesellschaftliche Entwicklungen immer komplexeren Problemlagen ausgesetzt" seien. Hierzu zählten insbesondere "exorbitant steigende Kosten für Lebensunterhalt und ein eklatanter Mangel an bezahlbarem Wohnraum für Familien mit geringen Einkommen" sowie mangelnde Unterstützungsmöglichkeiten im sozialen Umfeld.

In Summe bleibt der Eindruck, dass eine substanzielle Verbesserung der Lage für die Jugendämter wohl eher einem Marathonlauf gleicht als einem kurzen Sprint. Immerhin, die Leiterin der Kinderschutzambulanz Bergisch Land, Birgit Köppe-Gaisendrees, bescheinigt dem Land NRW, dass es im Vergleich zu anderen Bundesländern weit sei, was den Kinderschutz angehe.

Über das Thema berichten wir am Dienstag im WDR-Fernsehen in der Aktuellen Stunde ab 18:45 Uhr.

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