Von mehr als 1.100 Menschen hat die NRW-Polizei im Jahr 2022 die Kommunikation überwacht. Es sind oft besonders aufwändige Strafverfahren, etwa gegen Drogenbanden oder Terroristen. Längst werden dabei nicht mehr nur Telefongespräche abgehört. Die Ermittlerinnen und Ermittler bekommen auf richterlichen Beschluss von den Telekommunikationsanbietern ganze Datenpakete geliefert, inklusive Aktivitäten im Netz und über Apps.
Oliver Huth, NRW-Vorsitzender BDK
"Wir müssen die Daten richtig auslesen und interpretieren können", sagt Oliver Huth, LKA-Ermittler und Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) in NRW. Dabei hilft der Polizei ein Computerprogramm. Es macht die Telekommunikationsdaten erst hörbar, lesbar und vor Gericht verwertbar.
"Wie ein Funkwagen mit drei Reifen"
Diese Software allerdings ist ziemlich in die Jahre gekommen. Sie basiert auf einer Programmierung aus dem Jahr 2008. Nur noch etwa "60 bis 70 Prozent" der Daten könne die Polizei damit noch verwerten, schätzt Ermittler Huth und spricht von einem Desaster: "Das ist ein Riesenproblem. Das wäre so wie ein Funkwagen, der mit drei Reifen durch die Gegend fahren soll."
Dass etwas Neues her muss, wussten die IT-Beamten des zuständigen Landesamtes für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD) schon im Jahr 2017. Sie suchten einen Anbieter für eine neue Software zur Telekommunikationsüberwachung, die laut Ausschreibung "auf dem neuesten technischen Stand" sein musste und mit "zunehmend verschlüsselt ablaufender Kommunikation" klar kommt.
Neuer Starttermin: Frühestens Ende 2023
Das Programm sollte zeitnah die alte Software ablösen. Schon zum Start des Jahres 2019 sollte es flächendeckend laufen, so lautete damals die Vorgabe, um den Zuschlag für das Projekt zu bekommen. Der ging schließlich an ein kanadisches Unternehmen.
Doch heute, knapp fünf Jahre nach dem geplanten Start, steht die Software der NRW-Polizei immer noch nicht für Ermittlungen zur Verfügung, wie Westpol-Recherchen zeigen. Sie läuft bisher nur im Probebetrieb. Das LZPD hofft nun, dass das Programm ab Ende 2023 im Regelbetrieb eingesetzt werden kann.
"Keine Software von der Stange"
Herbert Reul (CDU), NRW-Innenminister
"Mich wundert das bei solchen Projekten nicht", sagt NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) dem WDR, "wir haben ja auch nicht eine fertige Software von der Stange gekauft, sondern im Grunde ein Entwicklungsprojekt." Der Hersteller sollte sein Produkt also erst noch an die Vorgaben der Polizei anpassen.
"Ich habe da noch nie erlebt, dass das akkurat in der Zeit bleibt", zeigt sich Reul unbeeindruckt. Mehrmals, so das Innenministerium, habe die Software während der Entwicklung auch umprogrammiert werden müssen, um neue Gesetze zu berücksichtigen - so etwa die Vorgaben des neuen NRW-Polizeigesetzes.
- Sendehinweis: Westpol | 8. Oktober 2023, 19.30 Uhr
Grundsätzliches Problem der Polizei bei IT-Anwendungen
"Typisch" sei das für ein grundsätzliches Problem bei der Polizei, sagt Annette Brückner, eine der Expertinnen für IT-Anwendungen bei der Polizei in Deutschland: "Man läuft einem ständig wechselnden Ziel hinterher. Und der Auftraggeber sagt einem gar nicht, wo das Ziel ist. Weil er es selber nicht weiß."
Annette Brückner, Blog police-IT.net
Das Problem beginnt nach Brückners Einschätzung schon mit einer unpräzisen Ausschreibung und setzt sich dann mit Abschluss der Verträge und dem Projektmanagement fort. Ihrer Erfahrung nach versäumten es Polizeibehörden regelmäßig, bei IT-Entwicklungen feste Fertigstellungsdaten zu vereinbaren, zu denen der Hersteller dann zwingend Ergebnisse abliefern muss oder eben weniger Geld bekommt.
Kosten der Software: Wahrscheinlich mehrere Millionen Euro
Das Innenministerium weist darauf hin, dass auch die Corona-Pandemie zu der Verzögerung beigetragen habe. Die Programmierer des kanadischen Herstellers JSI, die sich um das Projekt kümmern, sitzen in Kanada und Australien. Sie durften während der Pandemie lange nicht reisen. In Deutschland hatte JSI damals nicht mehr als vier Mitarbeiter.
Zum Kaufpreis für die Software schweigt das Ministerium. Er dürfte nach Einschätzung von Experten bei mehreren Millionen Euro gelegen haben. Teurer sei die Software allerdings trotz der ganzen Verzögerungen nicht geworden. Gezahlt worden sei laut Innenminister Reul "immer nur das, was wir auch geliefert bekommen haben".
Geld zurückfordern kann das Land nicht
Darüber schüttelt IT-Expertin Brückner den Kopf. Schließlich habe sich ja all die Jahre Personal im zuständigen Landesamt damit beschäftigt und so Kosten verursacht. "Und der Schaden besteht vor allem darin, dass die Polizei in den fünf Jahren mit der Software nicht arbeiten konnte."
Geld zurückfordern konnte das Land trotz der Verzögerung nicht, räumt das Innenministerium ein. Das sei von Anwälten geprüft worden. Stattdessen mussten zusätzlich noch einmal 1,2 Millionen Euro ausgegeben werden, um die alte Software, die weiter voll im Einsatz ist, anzupassen.
"Softwareentwicklung ein Jammerstück"
Im NRW-Landtag sind all diese Vorgänge bisher nie Thema gewesen. "Der Minister neigt dazu, aus solchen Dinge eine Black-Box zu machen", kritisiert der FDP-Abgeordnete Marc Lürbke, "hier geht es um die Frage, wie unsere Polizei arbeiten kann, wie wir sie unterstützen. Und da würde ich mir wünschen, dass wir auch öffentlich darüber diskutieren."
IT-Expertin Brückner, die den Blog police-it.net betreibt, würde sich wünschen, dass die Strategie der Polizei auch grundsätzlich hinterfragt wird. Etwa im Hinblick auf die Frage, warum Länder wie NRW oder Bayern sich überhaupt eigene Software-Lösungen für so etwas wie Telekommunikationsüberwachung bauen lassen, anstatt gemeinsam solche Projekte anzugehen und so auch Kosten zu sparen: "Was in den letzten 30 Jahren gelaufen ist in der Softwareentwicklung für die Polizei ist ein Jammerstück. Und Nordrhein-Westfalen ist gut in der Spitze dabei."
Polizeisoftware verschlingt Millionen
Westpol. 08.10.2023. UT. DGS. Verfügbar bis 08.10.2028. WDR.