Amnesty sieht Versammlungsfreiheit in Deutschland erstmals eingeschränkt - auch in NRW
Stand: 20.09.2023, 14:42 Uhr
Präventivhaft, repressive Gesetze, Versammlungsverbote - die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sieht in einem aktuellen Bericht die Versammlungsfreiheit in Deutschland erstmals eingeschränkt. Gründe dafür kommen auch aus NRW.
Nordrhein-Westfalen habe - wie Hessen - ein restriktives Versammlungsgesetz verabschiedet, heißt es in dem Bericht. Das Gesetz greife unverhältnismäßig weit ins Versammlungsrecht ein und könnte Menschen davon abschrecken, zu demonstrieren. Die damalige schwarz-gelbe Landesregierung hatte das umstrittene Gesetz Ende 2021 verabschiedet.
Konkret kritisiert Amnesty zum Beispiel, dass Gegenproteste mit Straßenblockaden zu leicht kriminalisiert werden könnten, dass bereits Vorbereitungen wie Blockade-Trainings strafbar und Demonstrationen auf Autobahnen generell verboten sind, sowie dass es ein umfassendes Vermummungsverbot gibt.
Innenministerium kann Kritik nicht nachvollziehen
Das NRW-Innenministerium widerspricht dem Bericht. In einer Stellungnahme auf eine WDR-Anfrage heißt es: Wenn der "vermeintlich repressive Charakter" des Gesetzes an verschiedenen Bestimmungen festgemacht werde, offenbare das ein "bemerkenswert kurz greifendes bzw. unzutreffendes Verständnis".
Die kritisierten Regelungen würden lediglich "begrenzte, jedoch zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit unabdingbare Verbote" beinhalten. Durch sie würde es überhaupt erst möglich, ordnungsgemäß an einer Versammlung teilzunehmen. Dass Menschen vorsichtiger von ihrer Meinungs- und Versammlungsfreiheit Gebrauch machten, sei im tatsächlichen Demonstrationsverhalten nicht erkennbar, heißt es aus dem Innenministerium.
Gesetz ist unter Juristen umstritten
Christian von Coelln
Unter Juristen ist das Gesetz umstritten. So kommt der Rechtswissenschaftler Prof. Christian von Coelln von der Universität Köln zu dem Fazit, dass das Gesetz eine "sinnvolle Neuregelung" darstelle. Grundsätzliche Einwände gäbe es aus juristischer Perspektive nicht. Auch Prof. Christoph Gusy von der Universität Bielefeld spricht in seiner Stellungnahme von einem "rechtstechnisch hohen Standard."
Anders sieht das die Neue Richtervereinigung, ein Interessensverband von Richtern und Staatsanwälten. Sie kritisiert, dass das Gesetz sich auf Regelungen zur Beschränkung und Beschneidung des Demonstrationsrechts konzentriere, ohne das Grundrecht auf Versammlung zu stärken. Prof. Clemens Arzt von der Hochschule für Recht und Wirtschaft attestiert dem Gesetz zahlreiche Mängel. An vielen Stellen knüpfe es an einer "obrigkeitsstaatlichen Tradition" an.
Klage gegen Versammlungsgesetz vorm Verfassungsgerichtshof
Für die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) - ein gemeinnütziger Verein, der sich nach eigenen Angaben der Verteidigung von Menschen- und Grundrechten verschrieben hat - sind Teile des Gesetzes so weitgehend und unbestimmt, dass die GFF Klage vor dem nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshof eingelegt hat.
Der Verein argumentiert dabei ähnlich wie Amnesty: Protestierende könnten nicht wissen, wann sie sich strafbar machen. Das und die durch das Gesetz erleichterte Videoüberwachung könnten einschüchtern und davor abschrecken, an Protesten teilzunehmen. Eine Entscheidung in dem Fall steht noch aus. Das Gesetz selbst sieht vor, die Auswirkungen zum Ende dieses Jahres zu überprüfen.
Klimabewegung besonders betroffen
Deutschlandweit sieht Amnesty International vor allem die Klimabewegung von Gesetzesverschärfungen, Kriminalisierung und Polizeigewalt betroffen. Als Beispiele nennt Amnesty sogenannte Schmerzgriffe, die überwiegend bei Straßenblockaden von Klimaaktivisten genutzt würden, sowie der v.a. in Bayern angewandte Präventivgewahrsam.
Anfang September waren dort über 20 Aktivisten in Gewahrsam genommen worden, um Störungen bei der Internationalen Automobilausstellung in München zu verhindern. Kritik gibt es auch an der Räumung des Dorfs Lützerath am Tagebau Garzweiler. Beobachter hätten von Polizeigewalt und unterdrückter Versammlungs- und Pressefreiheit berichtet, so die Menschenrechtsschutzorganisation.
Gewalt bei Räumung von Lützerath
Räumung von Lützerath
Bei der Räumung war es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Protestierenden gekommen. Beide Seiten werfen sich gegenseitig vor, gewaltsam vorgegangen zu sein. WDR-Reporter waren damals zu unterschiedlichen Einschätzungen gekommen. Nach Polizeiangaben soll es zwischenzeitlich 600 Ermittlungsverfahren gegeben haben.
Die Journalistengewerkschaft DJU kritisierte, es habe "wesentliche Einschränkungen der Pressefreiheit" gegeben. NRW-Innenminister Reul sprach von einem Einsatz, der gut und professionell gelaufen sei.
Über das Thema berichten wir am 19.09.2023 auch in der "WDR Aktuell" um 12:45 Uhr und 16 Uhr im WDR Fernsehen.