Parteitag: Luisa Neubauer hält den Grünen eine Standpauke
Stand: 16.10.2022, 20:13 Uhr
Zum Abschluss des Parteitags der Grünen in Bonn geht es am Sonntag um Klimapolitik. In ihrer Rede erinnerte Klimaaktivistin Luisa Neubauer die Partei an ihre Grundsätze und kritisierte einen "ökologischen Hyper-Realismus".
Von Nina Magoley
Für die Grünen ist die derzeitige Energiekrise gleich ein doppelter Alptraum. Grüne Grundsätze und ureigene Positionen werden gerade reihenweise gekippt - auch, um Kompromisse mit den jeweiligen Koalitionspartnern zu finden. Nicht nur auf Bundesebene, auch in NRW hört sich manch Grünen-Politikerin und -Politiker gerade Dinge sagen, die er oder sie früher nicht für möglich gehalten hätte. Ein Dilemma, das sich auch durch den Bundesparteitag zieht, der am Freitag in Bonn begonnen hat.
Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer brachte es in ihrer Rede am Vormittag auf den Punkt. Es sei "eine komplizierte Rede in komplizierten Zeiten", begann die 26-Jährige. "Draußen protestiert Fridays for Future, jetzt spreche ich hier als Aktivistin und Grünen-Mitglied, nachher werde ich nach Lützerath fahren, wohin sonst". Die Grünen regierten gerade unter den härtesten nur vorstellbaren Bedingungen, räumte sie ein, "wir sehen, dass Ihr kämpft".
Neubauer kritisiert "ökologischen Hyper-Realismus" bei den Grünen
Sie sehe aber auch einen "neuen Modus" bei den Grünen, "eine Art ökologischen Hyper-Realismus". Plötzlich hieße es, man solle sich nicht "im Kleinen verkämpfen", stattdessen gebe es lieber noch "eine Runde Öl von Verbrechern, damit die Gesellschaft nicht die Laune verliert für den Klimaschutz". Plötzlich würden klimafeindliche Entscheidungen "so plausibel verteidigt - wenn man still ist, hört man irgendwo ein Ökosystem weinen".
Sie verstehe, sagte Neubauer, dass der Ausstieg aus Erdgas, Öl und Kohle nach dem 24. Februar "ein anderer sein muss, als davor". Was sie aber nicht verstehe: "Dass dieser provisorische Weg für Jahrzehnte zementiert wird." Dass jetzt Verträge für neue Infrastrukturen zur Nutzung fossiler Energien unterschrieben würden, mit denen das Pariser Klimaabkommen sicher gebrochen würde.
Die grüne NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur hatte kürzlich mit dem Energiekonzern RWE eine Vereinbarung getroffen, den Kohleausstieg im Rheinischen Revier um acht Jahre auf 2030 vorzuziehen. Zugleich sollen allerdings zwei Braunkohlekraftwerke länger als bisher geplant laufen.
Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bund, Britta Haßelmann, hatte diese Einigung zuvor hoch gelobt: "Wir werden dadurch unglaubliche Mengen an CO2-Ausstoß, an Treibhaus-Emissionen einsparen können", sagte sie dem Sender Phoenix am Rande des Parteitags. Dass Lützerath endgültig aufgegeben werden soll, sei eine bittere Entscheidung. "Aber das Wesen von Kompromissen ist, dass, wenn die gezimmert werden, es am Ende auch Pros und Kontras gibt." Durch die Vorziehung des Kohleausstiegs gelänge es schließlich, andere Dörfer zu retten, sagte Haßelmann.
"Gefakte Zahlen von RWE"
Aktivistin Luisa Neubauer dagegen zweifelte die Zahlen an, die der Kohle-Vereinbarung zugrunde liegen. Durch den vorgezogenen Kohleausstieg werde "keine einzige Tonne CO2 eingespart", wenn gleichzeitig die alten Kraftwerke weiter liefen. "Seit wann argumentieren die Grünen mit gefakten Zahlen von RWE?", fragte sie. "So lange die Kohlekonzerne die Regeln machen, gibt es keine Klimagerechtigkeit." Der Grünen-Parteitag müsse "das Korrektiv sein" und die Entscheidung ändern. Neubauer erntete stehende Ovationen für ihre Rede.
Im WDR-Interview konkretisierte Neubauer ihre Kritik: Die Grünen hätten bei der Kohle-Vereinbarung "mit RWE-Zahlen argumentiert, die nicht überprüfbar sind", und dabei das Pariser Klima-Abkommen zur Disposition gestellt. "Sie verhandeln etwas, was sie eigentlich nicht verhandeln können." Denn das Pariser Abkommen sei bereits ausgehandelt. "Finanziell gesprochen, würde man von Betrug reden", so Neubauer.
DIW-Studie kommt zu geringeren CO2-Einsparungen
Neubauer beruft sich offenbar auf eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vom Juni 2021, die zu dem Schluss kam, dass die CO2-Einsparungen durch den vorgezogenen Braunkohleausstieg in NRW deutlich geringer ausfallen würden, als vom Bundeswirtschaftsministerium und der Landesregierung angekündigt. Statt, wie von Land und Bund errechnet, 280 Millionen Tonnen Kohle würden höchsten 64 Millionen Tonnen Kohle eingespart.
Die Studie war von der Initiative "Alle Dörfer bleiben" in Auftrag gegeben worden - unter der Leitung der Wissenschaftlerin Catharina Rieve. Sie ist unter anderem für die Forschungsgruppe CoalExit der TU Berlin tätig, die "Gestaltungsoptionen eines sozialverträglichen Kohleausstiegsplans für Deutschland" untersucht. Im Gegenzug hatte die Landesregierung drei eigene Gutachten zu Lützerath erstellen lassen - eines davon durch die Aachener Beraterfirma Ahu. Ahu-Mitarbeiter Michael Denneborg hält die DIW-Studie für fehlerhaft: Geologische und -Bergbaudaten seien dabei nicht beachtet worden.
Neubauer: "Grüne müssten radikaler werden"
Wirft den Grünen Betrug vor: Luisa Neubauer
Bei den Grünen, so Neubauer im WDR-Interview, beobachte sie eine "falsche Bereitschaft, bei den eigenen Idealen mal loszulassen", weil man sich dann für pragmatischer halte. Das sei "ein Riesenmissverständnis". Eigentlich müssten die Grünen "noch viel radikaler werden, weil das Grüne Grundsatzprogramm nicht das widerspiegelt, was nötig ist, um die Klimaziele einzuhalten".
Am Nachmittag stimmten die Delegierten noch über einen Änderungsantrag der Grünen Jugend ab, der ein Moratorium zum geplanten Lützerath-Abriss forderte. Die Antragsteller wollten, dass "kurzfristig rund um Lützerath keine Fakten der Zerstörung geschaffen werden". Nach einer kontroversen Debatte stimmten die Grünen aber mit 315 Nein-Stimmen und 294 Ja-Stimmen dagegen.