Eine Frau wärmt sich, in eine Decke gehüllt, an einer Tasse Tee

Gaskrise in NRW: Wie schlimm wäre der "schlimmste Fall" wirklich?

Stand: 12.08.2022, 15:59 Uhr

Geht uns im Winter das Gas aus? Experten sagen, dafür müsste schon alles schief gehen, was schief gehen kann. Wie wahrscheinlich leere Gasspeicher wirklich sind - und warum wir trotz der ernsten Lage vorsichtig optimistisch sein können.

Von Claudia Wiggenbröker

Selten dürfte sich NRW schon bei warmen Temperaturen so viele Gedanken über das Heizen im Winter gemacht haben: Mitten im Sommer gab es einen Nachfrageboom bei Heizlüftern, Konvektorheizungen und Ölradiatoren. Während die Sonne draußen bei 30 Grad scheint, haben viele Menschen offensichtlich Sorge, dass sie im Winter frieren müssen - weil es dann vielleicht nicht mehr genug Gas zum Heizen gibt.

Aber: Wie wahrscheinlich ist eine Gas-Lücke in der kalten Jahreszeit überhaupt - und wie schlimm könnte die Situation dann werden?

Was passiert im schlimmsten Fall?

Einschätzungen und Prognosen gibt es einige. Eine ist die "Gemeinschaftsdiagnose" von mehreren namhaften Forschungsinstituten wie dem IWH in Halle und dem RWI in Essen.

Laut den Instituten könnten im schlimmsten Fall 169 Terrawattstunden an Gas fehlen. So viel, wie man braucht, um 10 Millionen Wohnungen mit 100 Quadratmetern Wohnfläche ein Jahr lang zu beheizen.

Doch damit es zu dieser Lücke kommt, muss einiges passieren: Der Winter müsste eher kalt werden. Es würde nicht gelingen, Energie zu sparen. Und von anderen Ländern könnten keine relevanten Mengen an Gas geliefert werden. Kurz: Es muss eigentlich alles schief gehen, was schiefgehen kann.

Wie wahrscheinlich ist der Worst Case?

Die "Gemeinschaftsdiagnose" hält das Worst Case-Szenario nicht für den wahrscheinlichsten Fall. "Die Speicherfüllstände reichen aus, um durch die heizintensiven Monate zu kommen", erläutert Torsten Schmidt. Er forscht am RWI in Essen und war an der Gemeinschaftsdiagnose beteiligt. Allerdings:

"Die Lage ist angespannt, das muss man so sagen." Torsten Schmidt, Wirtschaftswissenschaftler

Wenn nicht gespart wird und keine alternativen Gas-Lieferanten gefunden werden, könnte es also zu einer Rationierung der Gas-Menge kommen.

Wie sparsam sind Industrie und Haushalte?

Oliver Holtemöller, Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung

Oliver Holtemöller, Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung

Aus der Industrie erhalte man in den vergangenen Tagen "sehr positive Meldungen", sagt Oliver Holtemöller. Er forscht am IWH in Halle, das ebenfalls an der Gemeinschaftsdiagnose beteiligt war. Schien es am Anfang noch unmöglich, Gas zu ersetzen, hätten einige Unternehmen mittlerweile Lösungen gefunden.

Die Gründe für das Umschewenken liegen laut der Hertie School in Berlin vor allem in den hohen Preisen. Beispielsweise ist die energieintensive Herstellung von Ammoniak, einem Vorprodukt von Düngemittel, stark zurückgegangen.

Ein weiteres Ergebnis der Studie von Juli: Die Industrie senkte ihren Verbrauch "deutlich stärker" als Privathaushalte. Das bemängelt auch Klaus Müller, Chef der Bundesnetzagentur. Zumindest ermahnte er Anfang August explizit Verbraucher, sparsamer zu sein. Bislang liege der Gas-Verbrauch nur 14 Prozent niedriger als im Vorjahr. Doch Deutschland müsse 20 Prozent schaffen.

Ökonom Holtemöller sagt, dass der Gas-Preis für bei Verbrauchern ankommen müsse: "Man sollte den Preisanstieg wirken lassen. Damit er seine Lenkungswirkung entfalten kann." So würden Anreize fürs Energiesparen gesetzt - und jeder könne sich auf hohe Rechnungen einstellen. Aber: Jene, für die der Preisanstieg eine übermäßige finanzielle Belastung wird, müssten unterstützt werden.

Gerade Transfergeld-Empfängern, wie Studierenden mit Bafög oder Hartz-IV-Empfängern, sollte man gezielt helfen. Fehler wie der Tank-Rabatt dürften sich indes nicht wiederholen. Mit dieser Subvention habe man Anreize für mehr Mobilität statt fürs Energiesparen gesetzt. Die Politik müsse daher auch kommunizieren:

"Man kann nicht alle entlasten." Oliver Holtemöller, Ökonom

Wie stark wäre NRW von einem Liefer-Ausfall betroffen?

Die Gemeinschaftsdiagnose blickt nicht speziell auf die einzelnen Bundesländern. Mit der Lage im Westen beschäftigt sich aber der Energieökonom Andreas Fischer. Er forscht am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Laut ihm hängt NRW, im Vergleich zu anderen Bundesländern, relativ stark am Gas.

"Wir haben in NRW hohe Gas-Verbräuche." Andreas Fischer, Energieökonom

Denn: Haushalte und Industrie sind am meisten auf den Rohstoff angeweisen. Da NRW das bevölkerungsreichste Bundesland ist, gäbe es dementsprechend viele Verbraucher, so Fischer. "Und es gibt auch viel Industrie." Zumal darunter viele Unternehmen wären, die energieintensiv produzieren, beispielsweise aus der Grundstoff-Industrie.

Andreas Fischer, Institut der deutschen Wirtschaft

Andreas Fischer, Institut der deutschen Wirtschaft

Doch der Westen hat auch einen Vorteil: Er liegt geographisch günstig, kann zum Beispiel Gas aus den Niederlanden oder Belgien beziehen. "NRW ist besser an alternative Transport-Routen angeschlossen als beispielsweise die süd- oder ostdeutschen Bundesländer", sagt der Energieökonom.

Was wären die konkreten Folgen des Worst Case?

Wenn das Gas nicht ausreicht, um die Nachfrage von Haushalten und Unternehmen zu decken, wird die Bundesnetzagentur das Gas rationieren. Bedeutet das, dass Verbraucher im Winter frieren müssen? Zumindest ist nicht ausgeschlossen, dass ihnen der Gashahn zugedreht wird.

Aber zunächst würde es Unternehmen treffen - und zwar solche, bei denen mit geringen Folgeschäden zu rechnen ist. Doch auch das hat Auswirkungen auf Verbraucher. Denn: Wenn Gas rationiert wird, das Angebot sinkt, werden die Preise weiter in die Höhe klettern. Dann wird es für viele Menschen noch schwieriger, ihre Energie-Rechnungen zu bezahlen. Sie werden den Gürtel enger schnallen müssen - und sich an anderer Stelle weniger leisten.

Das wiederum trifft dann auch die Unternehmen, die weiterhin Gas bekommen. Denn sie können weniger Produkte verkaufen, wenn Verbraucher sparen. Somit produzieren sie weniger - und können ebenfalls in die Bredouille geraten.

Torsten Schmidt, RWI

Torsten Schmidt, Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung

Kurzum: "Wenn es zu Mengen-Rationierungen beim Gas kommt, werden wir Anfang nächsten Jahres in eine Rezession rutschen", sagt Torsten Schmidt vom RWI. Der wirtschaftliche Abschwung müsse zwar nicht stark sein, sei dann aber unvermeidlich.

Was bedeutet das für Beschäftigte?

Rutschen wir in die Rezession, wird es Entlassungen geben. Oliver Holtemöller vom IWH schätzt aber, dass der Umfang gering wäre. Schon in vorangegangenen Krisen hätte man gesehen, dass die Unternehmen versuchen, ihre Beschäftigten zu halten. "Sie wissen genau: Wenn die Angestellten einmal weg sind, wird es später schwierig, sie zu ersetzen. Das sehen wir ja jetzt nach der Corona-Krise."

Man müsse daher eher damit rechnen, dass Unternehmen in Kurzarbeit gehen - oder Beschäftigte ihre Arbeitszeitkonten nutzen, um ihre Arbeitszeit im Winter zu reduzieren. Und schließlich ginge es bei einem konkreten Engpass um einen überschaubaren Zeitraum von ein bis zwei Monaten.

Was ist jetzt wichtig?

"Noch haben wir genug Gas, die Füllstände sind ermutigend", sagt RWI-Forscher Torsten Schmidt. Aber: Wenn sie einmal leer sind, werde es immer schwieriger, sie wieder aufzufüllen. Die Probleme würden somit auf das kommende Jahr verschoben, wenn nicht genug gespart wird.

Auch Energieökonom Andreas Fischer vom IW in Köln findet es wichtig, sich nicht nur um den jetzigen Winter zu kümmern. "Man muss Energieversorgung zukünftig anders planen." Wir müssten mehrere Dinge gleichzeitig tun, so Fischer. "Wir müssen Energie einsparen. Wir müssen Alternativen einkaufen, beispielsweise mehr Flüssiggas aus den USA." Dafür sollte man die Energie-Infrastruktur anpassen, unter anderem mit LNG-Terminals. "Und zudem müssen wir die Erneuerbaren Energien konsequent ausbauen."

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