Am 8. und 9. Dezember plante die Evangelische Akademie Villigst die 37. Afghanistan-Tagung unter dem Titel: "Realitäten ernst nehmen – Verantwortung übernehmen – Verbindungen stärken." Laut Ankündigung sollte dort mit "afghanischen, deutschen und internationalen Expert*innen" über die Lage in Afghanistan zwei Jahre nach der Herrschaftsübernahme der Taliban diskutiert werden.
Tagungsprogramm mit Sprengkraft
Im bis vor Kurzem online einsehbaren Programmablauf fand sich ein Tagesordnungspunkt mit Sprengkraft: Unter dem Punkt "Im Gespräch mit den Taliban…" stand dort als Gast angekündigt: "N.N., Vertreter der Taliban-Regierung, Kabul".
Aus dem Programm genommen
Im aktuellen Programm, der Schwerter Akademie taucht der umstrittene Programmpunkt am Montagvormittag nicht mehr auf. Statt dessen liest man jetzt zur fraglichen Uhrzeit "Zeit für Begegnung und Gespräche". In einer Mitteilung am Mittag distanzieren sich die Ev. Akademie Villigst und die Ev. Kirche von Westfalen von der Rede des Taliban-Vertreters in Köln. "Die Einladung eines Vertreters der (...) Taliban erfolgte vor Monaten. Sie enthielt klare Vorgaben zu den Erwartungen seitens der Akademie für ein offenes und klärendes Gespräch."
Die Erklärung der Ev. Akademie Villigst und der Ev. Kirche von Westfalen
Die Ev. Akademie Villigst und die Ev. Kirche von Westfalen erklären zu den kritischen Anfragen in Bezug auf die Einladung eines Vertreters der in Afghanistan regierenden Taliban:
1. Wir distanzieren uns mit Nachdruck von der Rede des Taliban-Vertreters, Abdul Bari Omar, am 16.11.2023 in der DITIB-Moschee in Köln-Chorweiler. Die Verantwortlichen für die Villigster Tagung standen zu keinem Zeitpunkt mit den Verantwortlichen der Kölner Veranstaltung in Kontakt und hatten auch im Vorfeld keinerlei Kenntnis davon.
2. Die Villigster Afghanistan-Tagungen bieten seit 1984 in Deutschland und im europäischen Ausland eine zentrale und weithin geachtete Plattform für Dialog, Begegnung und Diskussion. Der langjährige Schirmherr der Tagung, Staatsminister a.D. Prof. Dr. Christoph Zöpel, betont: "Die Villigster Afghanistan-Tagungen ermöglichen seit Jahrzehnten Gespräche mit und zwischen Afghanen unterschiedlicher politischer Haltungen. Nach dem tragischen Scheitern der westlichen Afghanistan-Politik sind jetzt Gespräche zwischen Afghanen, und damit auch mit Vertretern der Taliban, in Deutschland eine der ganz wenigen deutschen Möglichkeiten, auf eine menschwürdige Entwicklung in Afghanistan hinzuwirken. Die Teilnahme von Vertretern der Taliban würde dabei nur in Abstimmung mit den zuständigen Bundesbehörden erfolgen, um Verstöße von Taliban gegen das Strafrecht in Deutschland auszuschließen".
3. Die Einladung eines Vertreters der in Afghanistan regierenden Taliban erfolgte vor Monaten. Sie enthielt klare Vorgaben zu den Erwartungen seitens der Akademie für ein offenes und kritisches Gespräch. Mit Blick auf die augenblickliche Situation lässt sich jedoch bedauerlicherweise kein angemessenes Forum für ein offenes und kritisches Gespräch schaffen, so dass wir die Einladung des Talibanvertreters absagen.
Wir sind überzeugt: Angesichts der katastrophalen humanitären, menschenrechtlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Lage (vgl. u.a. Berichte und Studien der zuständigen UN-Institutionen), kann für die Menschen in Afghanistan nur dann eine Zukunftsperspektive entwickelt werden, wenn für alle unterschiedlichen Gruppierungen Gesprächsmöglichkeiten eröffnet werden. Die Ev. Akademie Villigst war und ist dafür ein vielfach geschätzter Ort. Auch in der Vergangenheit wurde vor allem kritischen afghanischen Stimmen ein Raum für Begegnung und Gespräch geboten.
Klar ist: In Schwerte ist die Situation eine völlig andere als in Köln. Dort hatte ein afghanischer Kulturverein namens "Kulturverein der Kunar Jugendlichen e.V." den Taliban-Vertreter Abdul Bari Omar eingeladen, das hat der Vorstand des Vereins dem WDR bestätigt. Die Türkisch-islamische Organisation Ditib hatte nach eigenen Angaben keine Kenntnis über die Veranstaltung und den umstrittenen Redner.
Legal nach Deutschland eingereist
Inzwischen ist auch bekannt, wie der Taliban-Vertreter nach Deutschland einreisen konnte. Die Niederlande hatten ihm ein Visum für den Schengen-Raum erteilt. Abdul Bari Omar hatte als Leiter der afghanischen Lebensmittel- und Arzneimittelbehörde an einer Konferenz der Weltgesundheitsorganisation WHO in Den Haag teilgenommen. Mit dem Visum konnte er auch legal nach Deutschland kommen.
Vor allem Taliban-kritische Stimmen
Gastgeber bei der Veranstaltung in Schwerte ist, anders als in Köln, kein wenig bekannter afghanischer Kulturverein, sondern eine evangelische Akademie, in Trägerschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen. Eingeladen waren in erster Linie taliban-kritische Teilnehmer. Lange war überhaupt nicht klar, ob an der geplanten Veranstaltung in Schwerte tatsächlich ein Vertreter der Taliban-Regierung teilnehmen wird – geschweige denn, wer genau.
Offene Fragen
Und dennoch wirft das Fragen auf: Wie kann es sein, dass einem hochrangigen Vertreter der Taliban in Deutschland offenbar erneut eine Bühne geboten werden sollte. Und warum hat der Veranstalter darin offenbar kein Problem gesehen?
Gespräch als Weg zu Veränderungen
Schirmherr der Veranstaltung ist der ehemalige Staatsminister im Auswärtigen Amt, Christoph Zöpel von der SPD.Zöpel sagte am Wochenende auf Anfrage des WDR: Er sei der Auffassung, dass man auch in Deutschland mit Taliban reden können muss: "Es gibt nur einen Weg, für Afghanistan etwas zu ändern: indem Gespräche unter Afghanen stattfinden. Da das aber in Afghanistan derzeit praktisch unmöglich ist, muss man auch Leute nach Deutschland einladen."
Allerdings müsse laut Zöpel natürlich geprüft werden, ob potenziell eingeladene Gäste für Deutschland eine Gefahr darstellen.
Über dieses Thema berichten wir auch in den Lkalzeit-Nachrichten auf WDR2 und in der Lokalzeit aus Dortmund ab 19.30Uhr.