"Der Fluss und das Meer" von Natascha Wodin
Stand: 12.12.2023, 12:00 Uhr
Eine namenlose Ich-Erzählerin voller Ängste und Traumata und zugleich das Alter Ego ihrer Autorin Natascha Wodin: „Der Fluss und das Meer“ versammelt fünf autofiktionale Erzählungen entlang der bewegenden Lebensgeschichte der deutschen Autorin russisch-ukrainischer Herkunft. Eine Rezension von Oliver Pfohlmann.
Natascha Wodin: Der Fluss und das Meer
Rowohlt, 2023.
192 Seiten, 22 Euro.
"Sie kam aus Mariupol": So hieß Natascha Wodins großer Roman über ihre Mutter aus dem Jahr 2017. Er erzählte von einem tragischen Frauenschicksal: Wodins Mutter überlebte in ihrer Heimat am Schwarzen Meer erst den Terror des Stalinismus, dann wurde sie von den Nazis als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt.
Mitte der fünfziger Jahre ertränkte sich die depressive Mutter in der fränkischen Regnitz; ihre Tochter war damals elf Jahre alt. Gleich zu Beginn ihres neuen Erzählbandes kehrt die heute 77-jährige Autorin noch einmal in die Heimatstadt ihrer Mutter zurück. Diesmal stellt sie sich vor, wie ein wenig Wasser aus der Regnitz über den Main-Donau-Kanal seinen Weg auch ins Schwarze Meer findet – eine überaus eindringliche Imagination aus naheliegendem Anlass.
"Wie muss ich mir dieses Meer heute vorstellen? Was würden seine Wellen mir erzählen, wenn sie sprechen könnten und ich sie hörte? Sie haben die dreifache Zerstörung Mariupols miterlebt. Zum ersten Mal durch Revolution und Bürgerkrieg, zum zweiten Mal durch die deutsche Wehrmacht, zum dritten Mal jetzt, in diesem Sommer, durch die Bomben eines wahnsinnigen russischen Hegemons. Es ist wie ein dritter Mordversuch an meiner Mutter. (…) Die Geschichte wiederholt sich, sie bewegt sich nicht linear, sondern dreht sich im Kreis."
"Der Fluss und das Meer" heißt dieser Text. Er ist die Titelgeschichte von Wodins neuem Erzählband. Das Buch versammelt fünf längere Prosastücke; einige erschienen bereits andernorts, wurden jedoch für diese Veröffentlichung überarbeitet. Das verbindende Element dieser Geschichten ist die namenlose Ich-Erzählerin, aufgrund der gemeinsamen Vergangenheit ein Alter Ego Natascha Wodins, die schon "Autofiktion" schrieb, als es dieses literarische Buzzword noch gar nicht gab.
Autorin wie Erzählerin wuchsen in der Nachkriegszeit als Kinder ehemaliger Zwangsarbeiter in einem fränkischen Provinznest auf, litten unter Diskriminierung und väterlicher Gewalt, später an unglücklichen Beziehungen. Wie einst Natascha Wodin verdient sich die Erzählerin ihren Lebensunterhalt als Übersetzerin, bevor sie im Schreiben zu einer eigenen Stimme findet.
Die Reihenfolge der Texte orientiert sich an der jeweiligen Handlungszeit und folgt damit zugleich der Biografie der Autorin: "Nachbarinnen" zum Beispiel, die zweite Erzählung, spielt Anfang der sechziger Jahre. Damals hatte sich die junge Natascha Wodin in die Ehe mit einem NPD-Mitglied verirrt.
Die erschreckende Verachtung ihrer Erzählerin für die verwahrlosende Frau gegenüber hat ihren Ursprung in der empfundenen Bedrohung, die von der Nachbarin auszugehen scheint: Deren Anderssein wirkt wie ein "Gespenst" der eigenen Vergangenheit, erscheint als Drohung, die eigene mühsam errungene Zugehörigkeit könnte wieder verloren gehen. Jahrzehnte später geschrieben und posthum an die Nachbarin gerichtet, erscheint diese Erzählung wie die nachträgliche Aufarbeitung einer lebenslangen Schuld.
Von Ängsten, Schuldgefühlen und lebenslangen Traumata handeln auch andere dieser Erzählungen. Damit einher geht zum einen die Suche nach erlösenden Liebesbeziehungen. Wie in "Notturno", als Wodins Erzählerin ihren Brieffreund aus den Fängen vermeintlich inhumaner Psychiater retten will. Und zum anderen die Suche nach Fluchtorten.
In der letzten Erzählung findet Wodins Alter Ego einen prekären Rückzugsort in einem baufälligen Gehöft. Doch mehr als die bröckelnden Mauern vermag ihr gerade das Schreiben, ihre "Arche", ein Mittel gegen ihre Ängste zu sein:
"Ich schreibe immer noch gegen den Wahnsinn an, gegen mein Verstummen, mein endgültiges Verschwinden, während die Summe meines ungelebten Lebens Tag für Tag wächst, proportional zu der Papierhalde, die ich seit Jahren produziere. Ich kann nicht leben, also schreibe ich. Obwohl ich das Schreiben hasse, weil es der Ausdruck meines Nichtlebens ist, und obwohl ich weiß, dass es für das, was ich zu sagen habe, keine Worte gibt. Die Angst ist das Formlose an sich und wäre nicht Angst, wenn es sich formen ließe."
In der Figur ihres sensiblen Freundes Simon spiegelt sich wohl der Schriftsteller Wolfgang Hilbig wider. Mit ihm führte die Autorin in den neunziger Jahren eine produktive Schriftstellerehe. Doch weiß ihre psychologisch versierte Erzählerin, dass sie ihre Ängste letztlich nur allein überwinden kann.
Bei der literarischen Verarbeitung ihrer Lebensgeschichte findet Natascha Wodin immer wieder eindringliche Metaphern und eine Sprache, die wirkungsvoll zwischen Emotionalität und Distanziertheit changiert: ein starkes Leseerlebnis!