Jürgen Becker: Nachspielzeit. Sätze und Gedichte
Suhrkamp, 2024.
106 Seiten, 24 Euro.
Nein, um Fußball geht es nicht wirklich in diesem Buch. Allenfalls gelegentlich ist vom runden Leder die Rede: von den alten Ascheplätzen der Oberliga West, vom Tabellenschlusslicht VfL Bochum oder vom Torwart des 1. FC Nürnberg in den dreißiger Jahren. Aber das ist stets Teil des fortlaufenden literarischen Wahrnehmungs-, Bewusstseins- und Erinnerungsprozesses, an dem Jürgen Becker seit nunmehr sechs Jahrzehnten schreibt. Das Ich dieses poetischen Werks dürfen wir einerseits umstandslos mit dem seines Verfassers ineins setzen. Andererseits trat es von Anfang an als multiples Ich auf, als eines, das fortwährend Selbstgespräche führt und sich assoziativ zwischen den verschiedensten Zeiten und Orten hin und her bewegt. Für dieses Ich ist nun die Nachspielzeit des eigenen Lebens angebrochen:
"Zeit vorbei, kein Warten mehr; fürs Nachspiel
laufen die Vorbereitungen.
Noch dehnen sich die Augenblicke aus, und
wie sie ihre Geschichte erzählen – […]."
Der gedehnte Augenblick, er ist so etwas der Kern von Beckers Poetik. Ausgehend von den gegenwärtigen, oft ganz profanen Wahrnehmungen und Beobachtungen, beginnt sich dieser Augenblick zu dehnen, im Bewusstsein des Ichs regen sich Erinnerungen und Assoziationen, die Gedanken schweifen ab hin zu ganz anderen Orten und Zeiten. Der Blick – oft aus dem Fenster, oft in die Natur – weitet sich, die Gegenwart vermischt sich mit der Vergangenheit, Geschichten deuten sich an. Seit den Anfängen seines literarischen Schaffens geht es Becker aber vor allem darum, den Bewusstseinsvorgang so authentisch wie möglich abzubilden, dieses Ineinander von Heute und Damals, von Hier und Dort, das sich eben nicht zu geschlossenen Erzählungen fügen will. Becker selbst spricht gerne von einem Netz der Zusammenhänge: Man muss nur irgendwo ziehen, schon kommt das ganze Netz in Bewegung, aus dem Heute rutscht die Wahrnehmung urplötzlich zurück in die eigene Kindheit:
"Im September die Hügelzüge an der Oder.
Das Gift ist weitergeschwommen, der Angler
geht wieder angeln.
Als der Schlagbaum hochging, war es vorbei
mit den Kinderjahren
im Frieden."
Im Herbst vor zwei Jahren wurde die Oder von einem großen Fischsterben heimgesucht, versursacht durch das Gift einer Alge, die sich aufgrund der Wärme und der illegalen Schadstoffeinleitungen in den Fluss massenhaft vermehren konnte. Die beiden Triggerworte "September" und "Oder" rufen nun sogleich Erinnerungen an den September 1939 wach, als die deutsche Wehrmacht Polen überfiel und der Zweite Weltkrieg begann. Das Foto, auf dem deutsche Soldaten einen Schlagbaum gewaltsam beseitigen, ist zu einer Ikone dieses weltgeschichtlichen Datums geworden. Jürgen Becker war damals sieben Jahre alt und lebte mit seiner Familie im thüringischen Erfurt. Und hierher, in die Zeit der Kindheit, kehren die Gedanken immer wieder zurück, Erinnerungsfetzen an Krieg und Nachkrieg tauchen auf, einzelne Bilder, die allenfalls in ihrer Summe so etwas wie eine Kindheitsbiografie ergeben.
Seit über sechs Jahrzehnten schreibt Jürgen Becker im Grunde an einem einzigen großen Buch, das man vielleicht am besten – über alle Gattungen hinweg – als Journal des Erinnerns bezeichnen könnte. Schreiben, das ist für ihn eine unendliche, nicht beendbare Aufgabe des Herstellens von Zusammenhängen, deren Schönheit und Stimmigkeit nur im Moment des Aufschreibens, im poetischen Augenblick gegeben ist. Das literarische Sprechen, es ist eine Art Atmen, Existieren, stets bedroht vom Verstummen, vom Schweigen, von der leeren Seite, die sich nicht mehr mit Wörtern füllen will.
"Nachspielzeit" meint aber auch noch etwas anderes. Vor drei Jahren ist Jürgen Beckers Frau, die Malerin Rango Bohne, gestorben. Die Zeit seither ist die Zeit nach der Gemeinsamkeit, die Zeit des Alleinseins, und so ist dieses Buch auch eines der Trauer und der Erinnerung an die Lebens- und Arbeitsgefährtin. Aus dieser Verlusterfahrung erwachsen Verse, die zum Schönsten und Berührendsten gehören, was dieser große Dichter je geschrieben hat.
"Und das Bild an der Wand sagt täglich, keine Wiederkehr mehr. Was dazugehört, sagen die Wörter, die von der Leiter im Pflaumenbaum erzählen, von den baumelnden Latten im Zaun, den Himbeeren und den Hühnern des Nachbarn, vom Holzholen und Feuermachen im Stall, vom Häher und den zwei Krähen, vom Gedächtnis der Scheune, von Hügelreihen, der Küste. Jahrzehnte im Inhaltsverzeichnis, das alle die Spuren kennt, die sich begegnen, vielleicht auch versöhnen, in der einen und anderen, in unserer Biographie. Ruhe ist nicht angesagt; unentschieden, wie es weitergeht, und auch die Nachspielzeit hört einmal auf – [...]."