"Kleine Monster" von Jessica Lind
Stand: 26.07.2024, 07:00 Uhr
Ein Vorfall in der Schule stellt das Leben einer Familie auf den Kopf. Während Luca schweigt, gräbt seine Mutter Pia in ihrer eigenen Vergangenheit. Jessica Linds Roman "Kleine Monster" ist ein packender Roman über die dunklen Seiten der Kindheit und die langen Schatten der Trauer. Eine Rezension von Oliver Pfohlmann.
Jessica Lind: Kleine Monster
Hanser Berlin, 2024.
256 Seiten, 24 Euro.
Der kleine Luca soll etwas angestellt haben. Mit Alena, einer Mitschülerin. Weshalb Lucas Eltern ihren Sohn vorzeitig abholen müssen, nach einem beunruhigenden Gespräch mit der Lehrerin. Aber was genau ist zwischen den Kindern vorgefallen, um welche Art der Grenzüberschreitung geht es hier überhaupt? Das versuchen Lucas Eltern herauszufinden, ohne Erfolg, denn der Junge schweigt. Ob aus Angst, Schuld oder Trotz bleibt in Jessica Linds neuem Roman lange Zeit unklar.
Der Titel des 250-Seiten-Werks, "Kleine Monster", lässt jedenfalls nichts Gutes ahnen. Während für Lucas Vater Jakob alles halb so wild ist – was kann ein Siebenjähriger schon Schlimmes angestellt haben? –, wird Pia, die Mutter, immer misstrauischer. Die Ich-Erzählerin hat sogar zunehmend den Verdacht, dass etwas Dunkles in der Seele ihres Sohnes lauert, spätestens als sie in Lucas Bett einen verräterischen feuchten Fleck bemerkt. Versucht Luca etwa ihr Mitgefühl zu erregen, indem er vorgibt, vor lauter Schuldgefühlen ins Bett gemacht zu haben?
"'Er ist schlau', sage ich. 'Natürlich ist er schlau. Aber deswegen weiß er noch lange nicht, was Google übers Bettnässen sagt.' 'Er manipuliert uns.' Jakob lacht auf. 'Ist das dein Ernst?!' Ich lache nicht. 'Kinder sind nicht nur kleine Engel. Ganz im Gegenteil.'"
Das mag zwar stimmen. Dennoch erscheint einem so viel mütterlicher Argwohn eher ungewöhnlich. Überhaupt ist es in Jessica Linds Roman die Ich-Erzählerin, die mehr und mehr in den Fokus rückt, und nicht ihr Sohn. Denn der mysteriöse Vorfall in der Schule setzt bei der jungen Frau eine Flut an Emotionen – und bald auch Erinnerungen – frei, vom Neid auf ihren selbstzufriedenen Mann mit seinem ungetrübten Kindheitsglück bis hin zu jähen Wutanfällen und sogar Gewaltfantasien.
"Ich bin gut darin, die Fassade aufrechtzuerhalten. So gut, über weite Strecken glaube ich mir selbst. Und doch. Die Liebe ist keine Selbstverständlichkeit für mich. Die Mutterhaut, die ich trage, passt nicht wie angegossen. Ich bin nicht Aschenputtel, ich bin eine ihrer Schwestern, die sich erst die Ferse abschneiden muss oder den großen Zeh. Und ich sitze hier und lasse die Tränen zu, weil ich weiß, dass Luca etwas Besseres verdient hat."
Letztlich erweist sich der Romantitel sogar als gezielte Irreführung der 36-jährigen Autorin aus Österreich, die vor drei Jahren mit dem Roman "Mama" debütierte. Denn wer hier einen Psychothriller über das Böse in Kinderseelen à la Stephen King erwartet, liegt falsch. "Kleine Monster" ist eher ein psychologischer Roman über den Dauerdruck, unter dem Mütter heutzutage stehen.
Und über die Langzeitfolgen verunglückter Trauerprozesse. Denn Pia hat, wie die eingestreuten Rückblenden erst allmählich offenbaren, als Kind einen Verlust erlebt, an dem damals ihre Familie zerbrechen sollte: den Unfalltod ihrer kleinen Schwester Linda. Es gibt nur einen Zeugen des Unglücks, Pias Stiefschwester Romi, die mittlere der drei Schwestern, heute eine erfolgreiche Influencerin, ohne Kontakt zur Familie. Mehr als zwei Jahrzehnte sind seither vergangen, und noch immer versucht Pia, die Romi heimlich auf Instagram folgt, zu verstehen, was damals geschehen ist: War die kleine Linda für Romi eine Rivalin im Kampf um die Liebe der Mutter, hat sie sie deshalb ertrinken lassen? Hat ihre Mutter, heute für Luca eine liebevolle Oma, damals die adoptierte Romi nach dem Unglück misshandelt und aus dem Haus getrieben?
"Ich muss vorsichtig sein. Das Erinnern ist ein Tasten im Ungefähren. Vielleicht führt zu Vielleicht. Das ist die Gefahr, wenn man versucht, sich sein Ich aus der Vergangenheit zu zimmern. Ich darf keine voreiligen Schlüsse ziehen. Denn es gibt auch noch das, was zwischen den Erinnerungen liegt, die aufblitzen, wie Leuchttürme in der Nacht: Alles, was ich vergessen habe, was aber vielleicht (hier ist es wieder) genauso wichtig ist."
Bei so viel Ballast aus der Vergangenheit kann einem um den kleinen Luca in der Gegenwart nur angst und bange werden. Tatsächlich wirkt das Gefühlsleben der Ich-Erzählerin zu sehr nach dem küchenpsychologischen Reißbrett konstruiert. Weisheiten wie die, dass Tote, von denen man sich nicht verabschiedet, bildlich gesprochen zu Gespenstern werden können, sind jedenfalls doch etwas billig. Von diesem Einwand abgesehen ist "Kleine Monster" ein durchaus packend zu lesendes, souverän geschriebenes Familiendrama aus der österreichischen Provinz.