Buchcover: "Am Himmel die Flüsse" von Elif Shafak

"Am Himmel die Flüsse" von Elif Shafak

Stand: 24.07.2024, 07:00 Uhr

Die türkische Bestsellerautorin Elif Shafak hat ein sehr gegenwärtiges Märchen voller Geschichte und Vergangenheit verfasst. Über Jahrtausende der Menschheitsgeschichte stellt sie mit ihren Figuren den großen Kreislauf des Lebens dar. "Am Himmel die Flüsse" ist ein Meisterwerk. Eine Rezension von Stefan Berkholz.

Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger.
Hanser, 2024.
592 Seiten, 28 Euro.

"Am Himmel die Flüsse" von Elif Shafak

Lesestoff – neue Bücher 24.07.2024 05:26 Min. Verfügbar bis 24.07.2025 WDR Online Von Stefan Berkholz


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Wo anfangen bei diesem überwältigenden und bezaubernden Roman von 600 Seiten? Elif Shafak montiert Menschheitsgeschichte über Jahrtausende. Wir erfahren viel über die Rätsel des Wassers und die Legenden und Traditionen eines verfolgten Volkes; über das Wesen von Fischen und die Ungerechtigkeit in der Welt; über Geheimnisse der Keilschrift und Mesopotamiens; über die Raubzüge des Westens, über Sterblichkeit und die Angst vor dem Tod selbst in Herrscherkreisen. Und es geht um die Suche und die Jagd der westlichen Zivilisation nach dem Wunder des Gilgamesch-Epos.

"Meine Herren, das Gilgamesch-Epos ist älter als die Bibel. Bedenken Sie, dass dieser Text jahrhundertelang mündlich überliefert worden ist, bevor er von Schreibern aufgezeichnet und in der Bibliothek des Königs Assurbanipal aufbewahrt wurde. Damit ist die mesopotamische Erzählung von der Sintflut wesentlich älter als die Arche Noah des Alten Testaments. Ich überlasse es Ihnen, die Konsequenzen dieses Funds zu beurteilen."

So erzählt es Arthur Smyth seinen staunenden ungläubigen Zuhörern. Arthur Smyth ist angelehnt an eine reale Figur, einen Außergewöhnlichen, der von seinen Zeitgenossen verhöhnt, ausgenutzt und missachtet wurde. Die Leidenschaft jenes einzelnen Engländers aus ärmsten Verhältnissen erschließt der Menschheit im 19. Jahrhundert eine Welt. Der Engländer ordnet Tontafeln aus Ninive, er entziffert die Keilschrift und entschlüsselt sie. Elif Shafak zitiert aus einem Tagebuch des beseelten Einzelgängers.

"Endlich habe ich meine Berufung gefunden: Es ist meine Pflicht, das Zerbrochene zusammenzufügen, den Menschen zu helfen, sich an das zu erinnern, was jahrhundertelang vergessen war, und das, was irgendwo auf dem Weg durch jene Zeit verloren gegangen ist, wiederzufinden."

Dann begleiten wir das Mädchen Narin, das 2014, als der Völkermord an den Jesiden im Irak beginnt, vor terroristischen IS-Kämpfern flieht. Und in London folgen wir vier Jahre später der dreißigjährigen Zaleekah, einer eigenwilligen, schwermütigen Frau, die Umweltwissenschaften studiert hat. In ihren Forschungen widmet sie sich dem Umweltschutz und ist den Rätseln des Wassers auf der Spur, versucht die Kreisläufe der Natur, des Lebens zu erfassen.

"Heute gibt sie die Daten des Tigris ein. (…) Der bogenförmige Bereich zwischen Mittelmeer und Persischem Golf trocknet in rasantem Tempo aus. Das größte Feuchtgebiet des Nahen Ostens, das sich der Irak, der Iran, Syrien und die Türkei teilen, liegt mitsamt seinem Ökosystem im Sterben."

Shafak gelingt es auf bewundernswerte Weise, Vergangenheit und Gegenwart zu bündeln. Auch köstliche, stimmige, auch anrührende Dialoge gestaltet sie, man erkennt die Figuren allein durch die unterschiedliche Tonlage. Das kriegen nur große Schriftsteller hin – wie Balzac etwa. Und die Übersetzerin Michaela Grabinger folgt der Vorlage traumwandlerisch. Elif Shafaks Botschaft verrät die Schriftstellerin gegen Ende:

"Wir formen aus unseren Träumen größere oder kleinere Gegenstände. Gefühle, die wir zwar haben, aber nicht akzeptieren, versuchen wir durch Dinge auszudrücken, die wir erschaffen – darauf vertrauend, dass sie uns überleben und etwas von uns durch die Schichten der Zeit transportieren, so wie Wasser den Fels durchsickert. Auf diese Art sagen wir zu den folgenden Generationen, denen wir nie begegnen werden: 'Denkt an uns!' (…) Wir schaffen Kunst, um eine Spur für die Zukunft zu hinterlassen, eine  kleine Krümmung im Fluss der Geschichten, der viel zu schnell fließt und viel zu wild ist, als dass wir ihn erfassen könnten."

Elif Shafak hat einen umwerfenden Roman verfasst, atemberaubend bis zum Ende. Sie hat, als "kleine Schreiberin", wie sie bescheiden und demütig zugleich anmerkt, letztlich den großen Kreislauf des Lebens mit ihren Figuren über die Jahrtausende beschrieben, jenen Kreislauf des Lebens, den viele Menschen übersehen in ihrer Hatz, in ihrer Gier, in ihrer Angst vor dem Tod. "Am Himmel die Flüsse" ist Shafaks Meisterwerk, ein sehr gegenwärtiges Märchen voller Geschichte und Geschichten, mit Warnungen an unsere selbstvergessene Gegenwart. Weitersagen und unbedingt lesen!