"Wenn es an Licht fehlt“ von Juan Gabriel Vásquez
Stand: 29.11.2023, 12:00 Uhr
Rotgardist in China, Guerillero im kolumbianischen Dschungel, erfolgreicher Filmregisseur. Juan Vásquez erzählt in "Wenn es an Licht fehlt" das außergewöhnliche Leben des kolumbianischen Filmemachers Sergio Cabreas nach. Eine Rezension von Simone Hamm.
Juan Gabriel Vásquez: Wenn es an Licht fehlt
Aus dem Spanischen von Susanne Lange.
Schöffling & Co., 2023.
448 Seiten, 28 Euro.
Der kolumbianische Regisseur Sergio Cabreras wird im Oktober 2016 in Barcelona mit einer Retrospektive seiner Filme geehrt. Genau in diesen Tagen stirbt Cabreras Vater. In Barcelona wird Cabrera bewußt, dass er an seiner Ehe, die in einer tiefen Krise steckt, festhalten will.
Die Kolumbianer haben in einem Referendum ein Friedensabkommen zwischen den Revolutionären der FARC Guerilla und der Regierung abgelehnt - nach über fünfzig Jahren Krieg. Diese einschneidenden Erlebnisse innerhalb weniger Tage sind Schlüsselpunkte in Sergio Cabreas Leben.
Juan Gabriel Vásquez hat Sergio Cabreas Leben zum Romanstoff gemacht. Zugleich hat er eine gesellschaftliche Analyse geschrieben, privat, politisch, historisch. In der Gegenwart findet er die Vergangenheit. Und alles kommt zusammen in Bogotà. Es ist großartig, wie Vásquez die Geschichte seines Landes an jeder Ecke, in jedem Winkel wieder aufleben lässt:
"So war Bogotá: Man ging zerstreut durch die Stadt […] und an jeder Ecke konnte einen die gewaltsame Geschichte des Landes anspringen. […] Weiter südlich befand sich der exklusive Club, auf dessen Parkplatz die FARC zwei-hundert Kilo C4-Sprengstoff […] zur Explosion gebracht hatte: sechsunddreißig Tote. Und wenn man geradeaus weiterging, gelangte man zu der Ecke Avenida Jiménez (Chimines), wo Jorge Eliécer Gaitán (Horche Elessier Geitán) 1948 mit drei Schüssen ermordet worden war. Viele sagten, an diesem 9. April habe eigentlich alles begonnen."
Sergio Vater Fausto, Gegner Francos, flieht mit seiner Familie über Umwege nach Bogotá, das er 1945 erreicht. Fausto wird ein großer Regisseur und Rezitator. 1963 beschließt Fausto, mit seiner Familie nach China auszuwandern.
Da ist Sergio zehn Jahre alt. Sergio liest Shakespeare und hört Verdi Opern. Im China der Kulturrevolution gilt das als höchst dekadent. Juan Gabriel Vásquez beschreibt sehr anschaulich, wie aus zwei sensiblen, musischen Kindern fanatische Rotgardisten werden können. Sergio versteht nicht, warum die Schüler ihren Lehrer quälen, schlagen, treten...
"Es war kaum fassbar: Seine Kameraden, Kameradinnen waren zu einer wilden Bestie mit tausend Füßen geworden, die den verletzlichen Körper des Zeichenlehrers trat. Und da sah sich Sergio einen Weg durch seine Mitschüler bahnen und ebenfalls einen Tritt austeilen."
Das ist ein Wendepunkt in seinem Leben. Von da an gehört er zu Maos kleinen Soldaten. 1968, als 18-Jähriger kehrt Sergio mit seiner Schwester zurück nach Kolumbien. Sie schließen sich der EPL an, der "Volksarmee der Befreiung", gehen in den Untergrund, marschieren und kämpfen im Dschungel. Manchmal hört Sergio heimlich Opernmusik im Transistorradio:
"Eine unbekannte Stimme, die ihn dem Urwald entriss und dann zurückgab mit einer Mischung aus Schuld und Erleichterung."
Die Geschwister verlieren ihre Illusionen, fühlen sich getäuscht, fragen sich, was sie da eigentlich tun. Sergio verläßt, wie seine Schwester, den Untergrund. Wieder ein Wendepunkt.
Am besten ist "Wenn es an Licht fehlt" immer dann, wenn Juan Gabriel Vásquez Protagonisten an einem solchen Scheidepunkt stehen, wenn sie zu zweifeln beginnen. Denn Vásquez erzählt stets aus der Perspektive seiner Figuren. Vorurteilsfrei. Ruhig und unaufgeregt.
In einer klaren, schnörkellosen, schönen Sprache. Bisweilen jedoch hat Vásquez, der doch aus der Fülle des Lebens einer wirklich ungewöhnlichen Familie schöpfen kann, zu viel Respekt vor seinen Protagonisten, bleibt zu weit außen vor, bleibt trockener Beobachter. Nicht jede Diskussion in einem chinesischen Betrieb ist interessant.
Dennoch: Juan Gabriel Vásquez gelingt es, dass die Leser und Leserinnen Sergio und Marianella verstehen können, ihre glühende Leidenschaft, das Gute in die Welt zu bringen, und seien die Mittel auch noch so fragwürdig. Er läßt sie weiter hoffen, wenn sie zurückschauen. Vor wenigen Monaten ist Sergio Cabrera Botschafter Kolumbiens in China geworden.