Buchcover: "Eine Jugend in Deutschland" von Ernst Toller

"Eine Jugend in Deutschland" von Ernst Toller

Stand: 12.01.2024, 12:00 Uhr

Ein Pazifist im Krieg. Ein Dichter als Revolutionsführer. Ein Hochverräter als Theaterstar. Ein aufrechter Mann im Exil: Ernst Toller. Eine Rezension von Uli Hufen.

Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland
Die Andere Bibliothek, 2024.
348 Seiten, 48 Euro.

WDR 3 Lesestoff: "Eine Jugend in Deutschland" von Ernst Toller

Lesestoff – neue Bücher 12.01.2024 05:35 Min. Verfügbar bis 11.01.2025 WDR Online Von Ulrich Hufen


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Ernst Toller ahnte, was kommen würde. Lange vor den meisten. Als die Nazis seine Bücher verbrannten, hatte er Deutschland bereits verlassen und lebte in der Schweiz. Toller war noch keine 40, hatte deutlich mehr erlebt, als ein Menschenleben normalerweise fassen kann, und wollte weiter Widerstand leisten:

"Nicht Fehler und Schuld, nicht Versagen und Unzuläng­lichkeit sollten in diesem Buch beschönigt werden, eigene so wenig wie fremde.
Um ehrlich zu sein, muss man wissen.
Um tapfer zu sein, muss man verstehen.
Um gerecht zu sein, darf man nicht vergessen.
Wenn das Joch der Barbarei drückt, muss man kämpfen und darf nicht schweigen."

Die Zeiten waren finster, der Ton des Vorworts daher schwer. Doch dann beginnt das erste Kapitel und nach wenigen Sätzen ist man gebannt. Von Tollers Erzählkunst. Und von einem Leben, das vom ersten Tag an auf das Jahr 1933 zuzusteuern schien. Rückblickend betrachtet.

Toller wurde 1893 in dem preußischen Kaff Samotschin geboren, heute in Polen. Wo die Fronten verlaufen, ist dem Kind früh klar. Zwischen Arm und Reich, zwischen Bauern und Städtern, aber vor allem zwischen Juden, Polen und Deutschen:

"'Glaubst du wirklich', fragte ich Stanislaus, 'dass die Juden in Konitz einen Christenjungen geschlachtet haben? Ich werde nie mehr Mazzen essen.'
'Quatsch! Gib sie mir.'
'Warum rufen die Jungen Jude, hep, hep?'
'Rufst du nicht auch Polack?'
'Das ist etwas anderes.'
'Ein Dreck! Wenn du’s wissen willst, Großmutter sagt, die Juden haben unsern Heiland ans Kreuz geschlagen.'
Ich laufe in die Scheune, verkrieche mich im Stroh und leide bitterlich."

Leiden wird Toller auch später: an Antisemitismus und Unrecht, im Gefängnis, im Krieg und im Exil. Aber er beschließt bald, sich nie mehr zu verkriechen. 1914 geht Toller hinaus in die Welt: nach Grenoble. Doch nach wenigen Monaten an der Uni landet Toller an der Front.

Es ist der Sommer 1914, Toller kommt Minuten, bevor die Grenzen schließen, zurück nach Deutschland und meldet sich freiwillig zum 1. Königlich Bayrischen Fußartillerieregiment. Er ist von eher schwacher Gesundheit, will sich aber beweisen, auch als deutscher Patriot. Weil Toller aber nicht nur ein Kämpferherz hat, sondern auch einen scharfen Verstand, zieht er bald Schlüsse aus dem Wahnsinn des Krieges.

"Der Krieg ließ mich zum Kriegsgegner werden."

Toller erleidet einen Zusammenbruch, ist kriegsuntauglich und stürzt sich in politische und künstlerische Arbeit. Er lernt Thomas Mann und Rilke kennen, er verkehrt im Salon von Max Weber, er schließt sich einer Gruppe von linken Kriegsgegnern in München an, zu denen Erich Mühsam, Oskar Maria Graf und Kurt Eisner gehören. Der Krieg, so glauben sie alle, ist nicht das Problem, sondern ein Symptom. Das Problem sind Kapitalismus, Armut und mangelnde Demokratie.

Dann ist Revolution und Toller mittendrin: bei Streiks und Versammlungen, auf Parteisitzungen und Barrikaden, meist bewaffnet, in hohen Ämtern, beseelt vom Kampf für Gerechtigkeit. Selbst dann noch ein Humanist, als das Blut im Mai 1919 in Strömen fließt bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik durch Freikorps- und Reichswehrtruppen.

"Nach einer halben Stunde werde ich in das Büro des Gefängnisverwalters hinuntergeführt, ein Hauptmann und ein Unteroffizier sitzen an einem Tisch, auf dem einige von mir unterzeichnete Aufrufe und Verfügungen liegen, ich werde gefragt, ob ich die Aufrufe unterzeichnet hätte.
'Ja', sage ich.
'Dann haben Sie Hochverrat begangen.'
Nach einer kurzen Pause: 'Sie sind zum Tode verurteilt. Abführen.'"

Toller entgeht der Erschießung, muss aber für fünf Jahre ins Gefängnis. Er hungert, wird schikaniert und schreibt. Der Hochverräter wird zum Theaterstar. Und denkt nach. Über das Leben als Jude in Deutschland und als Pazifist in einer gewaltsamen Revolution. Und über das, was draußen passiert, in München. Hier hat ein anderer Weltkriegsveteran andere Schlüsse aus Krieg und Revolution gezogen als Toller. Sein Name: Adolf Hitler.

Von all dem handelt „Eine Jugend in Deutschland“. Ein Buch voller Klugheit, Witz und Action, das auf unvergleichliche Weise von Dingen erzählt, die aktueller nicht sein könnten: Krieg und Tod, Staat und Revolution, Widerstand und Poesie. Ein Geschenk!