Buchcover: "Acqua Alta" von Isabelle Autissier

"Acqua alta" von Isabelle Autissier

Stand: 25.04.2024, 07:00 Uhr

Venedig geht unter. Lea hat es befürchtet und dagegen aufbegehrt. Guido, ihr Vater und einflussreicher Politiker, will die Fluten mit einem gigantischen Staudamm in den Griff bekommen. Ein höchst aktueller Roman der französischen Bestsellerautorin Isabelle Autissier, der aufrüttelt und beunruhigt. Eine Rezension von Gerhard Klas.

Isabelle Autissier: Acqua alta
Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig.
Mare, 2024.
208 Seiten, 23 Euro.

"Acqua alta" von Isabelle Autissier

Lesestoff – neue Bücher 25.04.2024 04:17 Min. Verfügbar bis 25.04.2025 WDR Online Von Gerhard Klas


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Kunst kann Wahrheit vermitteln. Das lernt Lea, die Tochter eines einflussreichen Stadtrats, in ihrem Studium. Anhand der Gemälde zweier venezianischer Künstler aus dem 16. und 17. Jahrhundert, Paolo Veronese und Giovanni Antonio Canal, genannt Canaletto, erkundet Lea in einem Seminar die allmählichen Veränderungen, die die Lagunenstadt heimsuchen. Ihr engagierter Professor nimmt die Studierenden mit an die Orte in Venedig, wo die Künstler vor vielen hundert Jahren ihre Staffeleien aufgebaut und die Stadt porträtiert haben.

"Der Sockel der Mauern wurde aus dem schönen, weißen, harten Kalkstein aus Istrien gebaut. Und Sie haben alle bemerkt, dass davon die letzten Reihen herausschauen, die vor Spritzwasser schützen. Darüber wurde, um möglichst leicht zu bauen, mit Backstein weiter gemauert, dazu große Fenster. Heute ist der Backstein in direktem Kontakt mit dem Meerwasser. Das Salz dringt ein und löst Mörtel und Putz auf, was die Gebäudesubstanz gefährdet."

Das neue Buch von Isabelle Autissier ist sehr gut recherchiert. Architektur, Kunst und Natur: Die französische Bestsellerautorin ist tief in die venezianische Kunstszene, den außergewöhnlichen historischen Erfahrungschatz der Stadt im Kampf mit den Naturgewalten und die aktuellen Bedrohungen durch den Anstieg des Meeresspiegels eingetaucht. Lea, die 18-jährige Studentin, wird der Venedig-Liebhaberin Autissier aus der Seele sprechen.

"Dass Venedig versinkt, weiß alle Welt, aber diese Vorstellung lässt ihr jetzt keine Ruhe mehr. Sie hat Zahlen dazu gefunden, wie oft das Acqua alta auftritt, seit ihrer Geburt haben sich die Hochwasserereignisse beinahe verdoppelt. Diese Tatsache nimmt für sie Gestalt an. In allen Stadtvierteln sucht sie nach einem blasigen Rand unten an den Mauern. Der Geruch nach Salpeter und Schimmel widert sie an. Nachts meint sie, die tausendjährigen Pfeiler ächzen zu hören, und in ihren Albträumen versinkt die Stadt geräuschlos, ebenso unabwendbar wie die Titanic, und hinterlässt nichts als braune Spuren im milchigen Wasser der Lagune."

  

Ihr Vater, Stadtrat Guido Malegatti, der mit Immobiliengeschäften reich geworden ist und den Tourismus als wichtigste Einkommensquelle der Stadt betrachtet, lässt sich davon nicht beunruhigen. Ausgestattet mit einem großen Ego und Freude an der Macht setzt er auf 77 gigantische Fluttore, die Venedig auch bei einem weiteren Anstieg des Meeresspiegels schützen sollen.

"Das große Schiff transportiiert eines der Fluttore zurück, vielleicht von einer Überprüfung oder Anpassung, und der Kran an Bord beginnt, den Stahlbrocken anzuheben. Das riesige Stück schwenkt langsam herum, als würde es nichts wiegen, und taucht ins Wasser ein, ohne auch nur die geringste Strömung auszulösen. Eine Gruppe von Tauchern wartet schon, um es in seinem Betonbett neben den anderen 77 Toren einzusetzen. Alles ist genau durchdacht, geregelt, geplant und organisiert. Auf dem Kahn bewegen sich die Männer in Orange vollkommen ruhig. Weder Geschrei noch Geschnauze noch abrupte Bewegungen, sie lenken die dreihundert Tonnen so präzise wie bei einem chirurgischen Eingriff. Die absolute Beherrschung vermittelt Unbesiegbarkeit, was Guido beruhigt. Was er hier sieht, ist der unbestreitbare Beweis für die Macht der Technik. [...] Und das Wasserballett, das er hier sieht, würde selbst die größten Zweifler überzeugen."

Lea entwickelt sich im Laufe des Romans von einer eigenwilligen Heranwachsenden zur radikalen Umweltaktivistin. Der Konflikt mit ihrem Vater und ihrer Mutter Maria, die aus einer venezianischen Dynastie stammt und in alten Zeiten schwelgt, ist vorprogrammiert. Die familiären Beziehungen geraten durch die äußeren Ereignisse immer weiter unter Druck und eskalieren schließlich.

Isabelle Altussier hat mit ihrem neuesten Roman ein hochaktuelles Thema vor dem Hintergrund einer spannungsgeladenen Familiengeschichte bearbeitet. Eine Geschichte, die Verdrängung und Wegschauen angesichts der Klimakrise und ihrer Konsequenzen schonungslos offen legt, ohne dabei moralisierend zu wirken.