Sylvain Tesson: Weiß
Aus dem Französischen von Nicola Denis.
Rowohlt Verlag, 2023.
256 Seiten, 23 Euro.
Sylvain Tesson, 1972 in Paris geboren, zieht es immer wieder in Landschaften fern der Metropolen. Er wanderte zu Fuß durch Frankreich, durchradelte Teile Asiens – und jetzt hat er vier Winter lang die Alpen von West nach Ost, von Frankreich über die Schweiz nach Italien durchquert:
"Beim Bergsteigen löst sich unvermittelt die Zeit auf, der Raum wird weit und der Geist tief ins Innere gedrängt. Der Glanz des Schnees hebt das Bewusstsein auf. Allein das Vorankommen zählt."
In den Wintern der Jahre 2018 bis 2021 war er mit einem Freund wochenlang mit einer Basis-Ausrüstung von Berghütte zu Berghütte unterwegs. Von Menton am Mittelmeer, den Ausläufern der Seealpen, über die Skistation Isola 2000 und das Schweizer Engadin bis nach Triest, also ebenfalls wieder am Mittelmeer.
"Es ging nicht darum, ein Bergmassiv zu überwinden, sondern mit einer Substanz zu verschmelzen. Vielleicht würde mein lang gehegter Traum in Erfüllung gehen, und ich könnte das Reisen zum Gebet werden lassen."
Eine religiöse Komponente taucht immer wieder auf in diesen Mediationen über den Schnee, die Gletscher, das Weiß und die Einsamkeit. Die Alpenüberquerung ist eine Mischung aus Reinhold-Messner-Extremtour und alpinem Jakobsweg.
"Die Essenz des Skiwanderns: der ständige Wechsel zwischen Strapaze und Erholung. (…) Morgen für Morgen würden wir uns in den kalten Rachen stürzen, Abend für Abend dürften wir uns in der Hütte einfinden, nachdem wir einem Sturz entronnen und bevor wir uns im Morgengrauen erneut ins Unbekannte begeben würden. Dieser Sport war ein Spiel. Und dieses Spiel war das Leben."
Den Stakkatorhythmus seiner Hauptsätze – packend übersetzt von Nicola Denis – garniert der Autor mit prallen Adjektiven und Verben. Stürzen, entrinnen, glitzern, das Unbekannte – Sylvain Tesson will die Natur in alle ihrer Farbigkeit und Ungestümheit aufs Papier bringen.
"Es war warm. Unsere Substanz veränderte sich. Die Wärme nach dem Weiß; bald die Dunkelheit. Die Reise wurde unser Gedicht. Der Schnee fiel. Er würde schmelzen. Es würde hell werden."
Tesson ist mit viel sprachlichem Pathos auf verschneitem Grat unterwegs. In rustikalen Berghütten begegnet er der Weltliteratur in Gestalt eines Bändchens von Marcel Proust: "Eine Liebe von Swann." Mit Zitaten und Referenzen wirft Tesson nur so um sich: Jean-Paul Sartre, Homers Odysseus, die französischen Schriftsteller Paul Claudel, André Gide, Blaise Cendrars – oder Nietzsche, an dem er in Sils Maria nicht vorbei kommt.
"Zwischen Steigeisen und Klettergurt hatte ich in meinen Rucksack auch eine Taschenbuchausgabe mit Rimbaud-Gedichten gestopft. Nach drei Tagen fielen die Seiten heraus."
Das nicht ganz unanstrengende literarische Namedropping lässt das "Weiß"-Buch zwar leicht eitel und versponnen erscheinen – aber es macht den Text durchaus kurios und sympathisch. Obwohl Sylvain Tesson das Buch mit Ende 40 geschrieben hat, spritzt einem daraus ein jugendlicher Überschwang entgegen.
Bezüge zur politischen Gegenwart bleiben marginal. Das ist keine Klage über schmelzende Gletscher und auch kein Gegenentwurf zum Ski-Massentourismus. Gelegentliche Bemerkungen zur Zerrissenheit der französischen Gesellschaft wirken wie zufällig, rein assoziativ. Das gilt auch für die Corona-Plage. Immerhin hat Tesson zwei der vier Winter-Begehungen in der Hoch-Zeit der Pandemie unternommen:
"Auf dem Abhang des Splügenpasses fiel mir die Handlung zu einer Erzählung ein: Drei Freunde reisen über die Kämme. Unten sterben die Menschen an der Pest. Weshalb sollten sie also hinabsteigen?"
…und sich den Beschränkungen der Anti-Covid-Maßnahmen unterwerfen, die in Frankreich besonders restriktiv waren. In den verschneiten Berghütten, so jubelt der Autor, wird das Virus einfach ignoriert. Diese Skitour ist den Untiefen des Alltags und der Politik enthoben. Sie ist ein philosophisch-literarisches Outdoor-Experiment. Selbsterfahrung in einem Reich der Freiheit; ein radikaler Gegenentwurf zum Leben in der Zivilisation: einfach nur "Weiß".