Buchcover: "Tag der Befreiung" von George Saunders

"Tag der Befreiung" von George Saunders

Stand: 21.03.2024, 12:00 Uhr

Es sind grandiose Stories aus dem beschädigten Leben. George Saunders schreibt in seinem neuen Erzählband über Abgehängte und Unterdrückte und ihre verzweifelte Suche nach Selbstbestimmung. Eine Rezension von Ferdinand Quante.

George Saunders: Tag der Befreiung. Stories
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert.
Luchterhand, 2024.
320 Seiten, 25 Euro.

"Tag der Befreiung" von George Saunders

Lesestoff – neue Bücher 21.03.2024 05:06 Min. Verfügbar bis 21.03.2025 WDR Online Von Ferdinand Quante


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In diesen Stories geht es fast durchweg um Macht und Ohnmacht, um die grausamen Zwangslagen von Menschen, die allen Grund hätten, resigniert zu verzweifeln, und trotzdem nicht aufgeben. Auch wenn die George-Saunders-Welt die Hölle ist, der Traum von Liebe und der Wille zur Selbstbestimmung sind in ihr nicht totzukriegen.

"Brenda war klein, rund, süß, sie stand da in einer dieser zu kurzen Blusen, die sie ständig über ihrem Kleinkindbäuchlein runterzog: koboldig, großzügig formuliert. Greggie und Bethie wohnten jetzt beide, leider, tja, wieder mit ihr zusammen in derselben alten schrottigen Zweizimmerwohnung."

Brenda ist Hilfskraft in einem Büro, manchmal schuftet sie dort bis Mitternacht. Beliebt ist sie nicht. Brenda redet ein bisschen zu viel, und einmal lässt sie Papierhandtücher und Kaffeekapseln heimlich mitgehen. 

"Ach je, worüber bin ich denn traurig?, dachte sie. Nichts, nichts, ich bin glücklich, ich habe Glück, fahre heim zu zwei tollen Kindern. Aus dem Gefängnis raus und wieder bei der Arbeit. Mit vier Rollen Papierhandtüchern, für die ich nicht mal bezahlt habe. Und so ein Kaffee-Dings im alten Beutelino. Und dann war ihr Gesicht, das sie im Busfenster sah: grantig."

Der kleine Diebstahl bleibt nicht unbemerkt. Ihre missgünstige Kollegin Gen verpfeift sie, Brenda wird gefeuert. Das Geld für die nächste Miete wird sie kaum mehr zusammenkriegen. Sie ist down, schämt sich fürchterlich, und zugleich ist da dieser Impuls, sich nicht geschlagen zu geben.

"Ach, scheiß auf Gen. Und auf alles, wofür sie stand. Sie würde ihre Rache schon noch kriegen. Eines Tages. Ganz bestimmt."

Nicht alle Schauplätze, die in diesem Band auftauchen, sind so vertraut und alltäglich wie Brendas Büro. Da ist ein Theater mit an den Wänden fest installierten Akteuren, halb menschliche Wesen, halb ferngesteuerte Zombies, deren Erinnerungen und Selbstbewusstsein ausradiert wurden, um sie mit Hilfe seltsamer elektronischer Gerätschaften nach Lust und Laune dirigieren zu können. Ist das schwarze Science-Fiction oder ein gar nicht so unrealistischer Blick in die nahe Zukunft? Oder ist dieses Sklaven-Theater eine Variante der albtraumhaften Kafka-Welt, in der ein Mann aus unruhigen Träumen als monströser Käfer erwacht?

George Saunders entwirft in seinem neuen Erzählband mehrere solcher dunklen Orte. Einer von ihnen ist ein faschistisches Amerika, in dem ein Großvater seinen Enkel in einem Brief beschwört, das herrschende System bloß nicht herauszufordern.

Wie in dieser wirklichkeitsnahen Dystopie pure Angst und liebevolle Zuwendung ineinanderfließen, ist so verstörend, wie es auch die Vorgänge an einem anderen Dunkelort sind: tief unter der Erde gelegen, bunt wie Disneyland, aber von eisernen Gesetzen regiert. Wer sich bei Verstößen gegen sie erwischen lässt, wird zu Tode getrampelt, was die sinnlos Eingekerkerten dann selbst übernehmen. Brian hat gerade an einer solchen Hinrichtung teilgenommen.

"Ich drehe mich um, werfe einen Blick auf Den Raum und sehe ihn schimmern, seine Fake-Bäume im Autosync-Wiege-Modus, das Glitzern und Glimmen der vielen kleinen Lichter in den Bäumen spiegelt sich in den zarten, von den springenden Fischen erzeugten Wellen des frei fließenden Bachs, und all das sagt zu mir, Brian, klar, du fühlst dich schlecht wegen dem, was gerade mit Gwen passiert ist, kein Wunder, aber ist es nicht trotz alledem immer noch eine wunderschöne Welt? In der du gar nicht mehr wärst, wenn dir Amy nicht, inzwischen zwei Mal, das Leben gerettet hätte? Warum nicht einfach versuchen, glücklich zu sein?"

Genau das ist die Frage, die sich in allen Erzählungen stellt. Das Glück, das die Unglücklichen suchen, ist so bescheiden wie schwer zu erreichen: das Ausgeliefertsein hinter sich lassen und selbstbestimmt leben. Ein Thema, neun großartige Stories des Meistererzählers George Saunders.