Buchcover: "Die Möglichkeit von Glück" von Anne Rabe

"Die Möglichkeit von Glück" von Anne Rabe

Stand: 11.10.2023, 12:00 Uhr

56 Jahre Diktatur: In ihrem Romandebüt erzählt Anne Rabe von den Nachwirkungen autoritärer Traumata auf eine Generation, die kurz vor dem Mauerfall in der DDR geboren wurde. Eine Rezension von Dirk Hohnsträter.

Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück
Klett-Cotta, 2023.
384 Seiten, 24 Euro.

"Die Möglichkeit von Glück" von Anne Rabe

Lesestoff – neue Bücher 11.10.2023 05:24 Min. Verfügbar bis 10.10.2024 WDR Online Von Dirk Hohnsträter


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Familiengeschichte und die Geschichte Deutschlands

"Nachdem Vater von meiner Geburt erfahren hatte, hat er sich in den Zug gesetzt und versucht, irgendwo einen Blumenstrauß für Mutter zu besorgen. Das war zu dieser Jahreszeit in diesem Land nicht einfach gewesen, würde er später betonen. Im Krankenhaus hat man mich vor seinen Augen aus dem Bettchen gehoben und an die Scheibe gehalten. Da war ich also. Jüngstes Glied einer langen Kette unglücklicher Umstände, die meine Familie sein würde."

Eine lange Kette unglücklicher Umstände: Davon erzählt Anne Rabes Debütroman "Die Möglichkeit von Glück". Es handelt sich um eine Familiengeschichte, die untrennbar verbunden ist mit der Geschichte Deutschlands. Welche Auswirkungen haben 56 Jahre Diktatur auf die Menschen? Bilden sie die Grundlage für Gewalt in der Gegenwart?

"Schwarze Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln, das bedeutete Nazis. Alle anderen sind unangenehm, aber nicht gefährlich. Das waren bloß Skinheads und Hänger. Sie lungerten auf den Spielplätzen rum, tranken Bier und rauchten. (Mutter sagte, es liege daran, dass sie die FDJ verboten haben.) Wenn man zum Spielen nach draußen geschickt wurde und noch nicht wieder reinkommen durfte, hieß es Blickkontakt meiden, auf keinen Fall flennen, wenn sie dir ein Bein stellen, und wenn einer von denen auf die Schaukel will, Platz machen."

Strenge Erziehung

Stine, die Protagonisten von Rabes Buch, ist drei Jahre alt, als die Mauer fällt. Sie lebt in einer Kleinstadt an der Ostsee. Ihre Familie, vom idealistischen Großvater über die tyrannische Mutter bis zum feigen Vater, ist tief ins DDR-System verstrickt. Das Kind wird dazu erzogen, still zu sein und zu gehorchen:

"Mutter das Gericht, vor dem ich todesängstig saß. Vater, der schwieg und duldete, vielleicht auch guthieß, dass dieses Mädchen, das so gern an seiner Hand lief und sich so sehr wünschte, dass er es beschützen würde, dass dieses Mädchen vor ihm zerbrach."

Eine verlogene Welt

"Die Möglichkeit von Glück" präsentiert die DDR als eine verlogene und verrohte Welt, aus der man nicht entkommen kann, nicht einmal, nachdem sie längst Geschichte ist.

Wer in dieser autoritären Umgebung aufwächst, muss mit Beschädigungen zurechtkommen, die das weitere Leben bestimmen. Weshalb die unterdessen erwachsene Stine den Kontakt zur Mutter abbricht, um ihre Tochter Klara vor deren Einfluss zu schützen:

"Mutter schreibt an Klara. Sie kann es noch, denke ich, als ich die Zeilen hektisch überfliege. Sätze, wie Dum-Dum-Geschosse, die erst nach dem Aufprall, wenn sie in den Körper eingedrungen sind, ihre zerstörerische Wirkung entfalten. Die gehen nicht einfach durchs Fleisch, die verformen sich und wandern kreuz und quer, bis alles im Inneren des Zielobjekts aufgerissen ist."

Zwischen Archivrecherche und Traumsequenzen

So sehr sich die Lebensgeschichte Stines und diejenige der Autorin ähneln, so unerheblich ist es letztlich, was und was nicht übereinstimmt. Wichtiger ist die Frage, wie repräsentativ die Grausamkeit war, von der Rabe erzählt. Gab es nicht auch ganz andere Lebensläufe im autokratischen Regime?

Die Zumutung dieses Buches besteht darin, erschütternde Lieblosigkeit und rohe Gewalt als Regelfall, nicht als Ausnahme dazustellen. Zu diesem Zweck durchziehen Archivrecherchen, Gesetzestexte und Umfrageergebnisse die 50 kurzen Kapitel. Sie vermischen sich mit Erinnerungen, Traumsequenzen und literarischen Zitaten zu einem kaleidoskopartigen Text.

Gegen Nostalgie und Verdrängung

Liest man dieses Buch, sieht man Deutschland anders. Das eigene Land wird einem unheimlich. Es ist gut, dass die sich jetzt zu Wort meldende, nächste Generation von DDR-Autorinnen der salonfähig gewordenen Verdrängung und Nostalgie einen schonungslosen Blick entgegensetzt:

"Bilde dir kein Urteil! Bilde dir ja kein Urteil, du Nachgeborene! Ja, wieso eigentlich nicht? Das ist doch ein billiger Trick. Hinter der wortschönen Mahnerei drei Keller tief Schweigen. Dort habt ihr eure Schuld verbuddelt und verbietet uns, sie auszuheben. Sprecht uns ab, dass wir zu unserem eigenen Urteil kommen. Was kümmert’s euch? Was geht’s euch an, was wir über euch denken?"