"Hier muss es sein" von Maggie O’Farrell
Stand: 09.02.2024, 12:00 Uhr
Eine berühmte Diva verschwindet und lebt jetzt mit Mann und Kindern versteckt in der irischen Provinz. Es ist kompliziert, aber sie sind glücklich - bis seine Vergangenheit alles zu zerstören droht. Eine Rezension von Jutta Duhm-Heitzmann.
Maggie O’Farrell: Hier muss es sein
Aus dem Englischen von Kathrin Razum.
Piper Verlag, 2'2024.
544 Seiten, 26 Euro.
Seine Frau Claudette, teilt Daniel Sullivan den Lesern heiter mit, sei verrückt.
Nicht im Sinne von Gehört-in-die Klapse (…), sondern auf eine subtilere, gesellschaftsfähigere, weniger auffällige Weise. Sie denkt anders als andere Menschen.
Sie sind schon seit Jahren verheiratet und haben zwei Kinder, doch noch immer macht seine Frau den sonst so eloquenten Linguistikprofessor sprachlos: ihre Art die Wirklichkeit zu sehen, ihre unverstellt ausgelebte Egozentrik, ihre bedingungslose Gradlinigkeit.
Sie ist offenkundig bereit, jeden mit dem Gewehr zu bedrohen, von dem sie befürchtet, er könne ihr Versteck ausfindig machen.
Nicht grundlos, denn Claudette Wells war eine weltberühmte Schauspielerin, als sie Mitte der 1990er Jahre während der Dreharbeiten zu einem neuen Film spurlos verschwand. Nur wenige Vertraute wissen, dass sie jetzt in einem einsam gelegenen Haus in der irischen Provinz lebt, ihr Bruder und natürlich ihr amerikanischer Mann, früher Professor in New York, jetzt Dozent an der Dubliner Universität. Er pendelt zwischen ihrem Versteck auf dem Lande und seinem Büro hin und her, ein komplizierter, aber befriedigender Kompromiss. Bis Daniel im Radio die Stimme einer früheren Geliebten hört. Sie wirft ihn völlig aus der Bahn.
Ich habe ein Gefühl, als wäre ein Fenster vom Wind aufgestoßen worden oder als wäre ein Dominostein gegen einen anderen gefallen und hätte eine Kettenreaktion ausgelöst. Eine Flutwelle ist herangerauscht und hat sich wieder zurückgezogen, und was darunter war, ist für immer verändert.
Die irische Autorin Maggie O’Farrell ist Expertin für komplizierte Beziehungen – und was ist schon komplizierter als eine Ehe. Ob in ihren Historischen Romanen oder denen aus der Gegenwart: immer zeigt sie sich als Kennerin zwischenmenschlicher Unterströmungen, beschreibt unerwartete Brüche und plötzliche Bedrohungen, allmähliche Korrosionen und zerstörerische Verdrängungen. Wie auch in ihrem Roman „Hier muss es sein“. Denn als Daniel zu einem Familientreffen in die USA fliegt, streckt seine Vergangenheit ihre Krallen nach ihm aus: eine desaströse Ehe, zwei verlassene Kinder, eine tote Geliebte.
Er (...) sieht das Ganze, als ein gasartiges Gift in einer verschlossenen, versiegelten Flasche, die nie wieder geöffnet werden darf.
Natürlich öffnet er die Flasche, doch seine größte Dummheit ist, dass er seiner Frau diese Vergangenheit verschwiegen hat. Für sie ein Vertrauensbruch, der schwerer wiegt als jeder sexuelle Seitensprung. Als er nach Irland zurückkehrt, ist das Haus leer.
Claudette ist gegangen. Sie hat die Kinder mitgenommen. Sie hat ihre Spezialität, ihr Glanznummer durchgezogen: das unvermittelte, vollständige Verschwinden. Und ich bleibe alleine zurück, ausgemustert, von dem Wissen erfüllt, dass es ganz allein meine eigene Schuld ist.
Daniel stürzt ab, Zigaretten, Alkohol, Drogen. Nicht nur er berichtet – alle kommen zu Wort: Claudette, ihre und seine Kinder aus ersten und zweiten Ehen, alte Freunde und neue Fremde. Steuern ihre Sicht bei, lauter einzelne Punkte, die sich zu einem wenn auch zersplitterten Ganzen zusammenfügen, voller Zeiten-,Orts- und Perspektivenwechsel, gespickt mit fast absurden Nebenhandlungen wie eine Auktion mit Objekten aus dem früheren Leben der legendären Diva Claudette Wells oder eine Reise in die bolivianische Salzwüste. Ein verrücktes Durcheinander, von dem die Autorin genüßlich erzählt, heiter, detailfreudig, fast sinnlich miterlebbar. Gute Unterhaltung also und gleichzeitig gute Literatur; denn Maggie O’Farrell ist eine geschmeidige, eigenwillige Stilistin, voller Sympathie für ihre gebeutelten Protagonisten – denen sie nach diversen Höllenstürzen ein neues, klügeres Leben zugesteht. Auch Daniel und Claudette – denn: „Hier muss es sein“:
Wir müssen uns dem widmen, was vor uns liegt, nicht dem, was wir nicht bekommen können oder verloren haben. Wir müssen nach dem greifen, was erreichbar ist, und es festhalten, ganz fest.