Buchcover: "Unzustellbare Briefe" von Anna Mitgutsch

"Unzustellbare Briefe" von Anna Mitgutsch

Stand: 28.03.2024, 12:00 Uhr

Was wäre gewesen, wenn? Die "Unzustellbaren Briefe" der österreichischen Schriftstellerin Anna Mitgutsch erzählen von verpassten Chancen und gelebtem Leben. Eine Rezension von Andrea Gerk.

Anna Mitgutsch: Unzustellbare Briefe. Erzählungen
Luchterhand, 2024.
320 Seiten, 24 Euro.

"Unzustellbare Briefe" von Anna Mitgutsch

Lesestoff – neue Bücher 28.03.2024 04:29 Min. Verfügbar bis 28.03.2025 WDR Online Von Andrea Gerk


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"Was du für mich warst" heißt der erste Text in Anna Mitgutschs Band mit Erzählungen und dieser Titel ist durchaus programmatisch zu verstehen. Denn bei diesen achtzehn Texten handelt es sich gleichsam um Briefe in die eigene Vergangenheit. Eine Kindheitsfreundin, die erste große Liebe oder die Großmutter werden von der Autorin angesprochen und Satz für Satz vergegenwärtigt:

"Du lehrtest mich das Geschichtenerzählen. Du lehrtest mich, dass es keiner Leistung und keiner Bestechung bedarf, um geliebt zu werden. Du lehrtest mich die Lieder deiner Kindheit, über die du schwiegst. Du fülltest meine Kinderjahre mit Wärme und Phantasie, und am Ende blieb nichts als das Haus deiner alten Tage und auch das ist nun verschwunden."

Über die Wünsche und Träume der Großmutter, die sechzig Jahre in einem Haus im Böhmerwald lebte, zwölf Kinder zur Welt brachte und selten ihr Tal verlassen hat, weiß die Briefeschreiberin wenig. Aber sie erinnert sich an die eigenen Gefühle als Kind, die spröde Zärtlichkeit der Großmutter, die der Enkelin Oblatentorten servierte, die sie noch als Siebzigjährige in einem langen Fußmarsch aus dem Nachbardorf holen ging. Oder sie schreibt jener – inzwischen fernen – Jugendfreundin, mit der sie auf vielen Reisen die Welt entdeckte:

"Wenn ich dich wiedersehe, bin ich zwanzig und alles Unglück der letzten fünfzig Jahre fällt von mir ab. Ich sehe dich und bin wieder Studentin, die sich alles zutraut und vor nichts zurückschreckt und sei es noch so waghalsig, die an der jordanischen Grenze durch den Stacheldraht schlüpft, trotz der Tafel mit der Aufschrift Lebensgefahr in drei Sprachen, um die bizarren Felsformationen zu fotografieren. Erinnerst du dich an unsere Reisen? Und wie erinnerst du dich?"

Aber das wird die Schreiberin wohl nie erfahren und um die Wahrnehmung des anderen geht es auch nicht in diesen anrührenden Briefen. Vielmehr öffnet das jeweilige Gegenüber eine Tür in ein ganz bestimmtes Stück der eigenen Geschichte: Ob es die Kindheit, die erste große Liebe während der Hippie-Zeit ist oder Begegnungen in Israel, Korea und mit amerikanischen Intellektuellen und Künstlern in den vielen Jahren, die Anna Mitgutsch als Literaturwissenschaftlerin an amerikanischen Universitäten gelehrt hat:

"Ich wünschte, wir hätten Freunde werden können. Damals, nach diesem letzten Besuch wäre eine Freundschaft wieder vorstellbar gewesen. Zwanzig Jahre waren vergangen, aber wir waren noch immer jung genug, um zu reisen, nach Frankreich, nach Paris, das du so gut kennst, in getrennten Zimmern und auf getrennte Rechnung. (…) Aber du hast alles, was du vom Leben brauchst. Und neue Freunde, die Unruhe in dein Leben bringen könnten, kannst du nicht brauchen."

Anna Mitgutschs "Unzustellbare Briefe" sind bei allen geteilten Erlebnissen, die sie vergegenwärtigen, nicht zuletzt eine Sammlung verpasster Chance und ungelebter Möglichkeiten. Denn so sehr es in ihnen darum geht, was der oder die Adressatin für die Verfasserin war, so sehr umkreist sie doch auch jene Leerstellen, von denen wir gar nicht wissen können, womit sie gefüllt worden wären. Es ist ein poetisches Herantasten an Menschen, die einem vor langer Zeit nah waren und nun – aus weiter Ferne – etwas über das eigene Leben und das, was es geprägt hat, erzählen.

Somit bieten die Adressaten dieser "Unzustellbaren Briefe" gewissermaßen nur den Anlass zu einer originellen und schlüssigen Form der literarischen Selbstverständigung, die einen als Leserin sehr dazu inspiriert, auch mal den eigenen Lebens-Leerstellen nachzuspüren.