Buchcover: "Der letzte Liebende" von Annette Mingels

"Der letzte Liebende" von Annette Mingels

Stand: 19.09.2023, 07:00 Uhr

Was ist das eigentlich, der "alte weiße Mann"? Einer, der als Prototyp für die ganze Gattung stehen könnte, muss sich am Ende seines Lebens selbst mit dieser Frage auseinandersetzen. Eine Rezension von Jutta Duhm-Heitzmann.

Annette Mingels: Der letzte Liebende
Penguin Verlag, 2023.
302 Seiten, 24 Euro.

"Der letzte Liebende" von Annette Mingels

Lesestoff – neue Bücher 19.09.2023 05:31 Min. Verfügbar bis 15.09.2024 WDR Online Von Jutta Duhm-Heitzmann


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Nur noch Fassade

Nein, kein wirklich sympathischer Typ, dieser Carl Kruger. Früher ein charismatischer Chemieprofessor, jetzt, um die achtzig, ein verunsicherter Mann, der mit sich und seinem Leben nicht mehr viel anzufangen weiß. Manchmal beneidet er sogar seine krebskranke Frau Helen um ihre durch die Behandlungen fest strukturierten Tage. Die Ehe selbst ist seit langem nur noch Fassade.

"Nach Meinung seiner Tochter war er ein hoffnungsloser Fall. Er war der Grund für das jahrzehntelange Unglück ihrer Mutter, das sich wie Gift in die feinsten Verästelungen der Familie ausgebreitet hatte – er war vielleicht sogar der Grund für das Scheitern von Lisas eigener Ehe."

Verloren in New York

Carl hatte sich immer Geliebte gegönnt, oft Studentinnen, die ihn bewunderten. So machte man das eben in jenen Jahren, vor dieser MeToo-Bewegung, die das universitäre Dasein – und nicht nur dort – für einen Mann so unerfreulich veränderte.

Jetzt streunt er alleine durch New York, die meisten Freunde sind gestorben und Helens Tod, bei aller Entfremdung ein Schock, verstärkt noch diese Verlorenheit.

"Wenn seine Tochter ihn besuchte, unterhielten sie sich – was man so unterhalten nannte. Sie fragte: 'Hast du alles, fehlt dir was?' und er sagte mit gespielter Fröhlichkeit: 'Alles da, alles klar.' Wie ein Alleinunterhalter klang er, alles da, alles klar. Dass man sich selbst so satthaben konnte."

Eine Reise in in die Vergangenheit

Genauso ereignislos wie Carls Tage plätschert der Roman dahin, die Sprache unaufgeregt, der Blick streng auf den trübseligen Helden fokussiert. Einer der vielen ausgelaugten Männer, die die Literatur bevölkern, wenn sie zusammen mit ihrem Autor älter werden.

Doch Annette Mingels ist kein Philip Roth, kein Richard Ford oder Martin Walser, sondern eine deutsche Autorin mittleren Alters, und sie will mehr als dieses deprimierte Bilanzieren. Für sie ist Carl der Prototyp des "alten weißen Mannes", der sich ohne Bedenken immer genommen hat, was er kriegen konnte, ein intelligenter, gebildeter Egoist. Und den will Tochter Lisa endlich mit sich selbst konfrontieren – durch eine Reise in seine Vergangenheit, nach Deutschland.

"'Ich fand immer, dass es spannend wäre zu sehen, wo du herkommst.' (…) 'Spannend für dich oder für mich?' fragte er schließlich. 'Ach je.' Lisa hob die Augenbrauen, atmete tief ein und stieß geräuschvoll die Luft aus. 'Wahrscheinlich für uns beide.'"

Bestürzende Erkenntnis

Eine neue Perspektive also, der Blick auf Kindheit und Jugend in deutsch-polnischen Gebieten, auf die immer noch dort lebenden Brüder: Hermann, etwas sonderlich, aber mit feinem Gespür für Menschen; Konrad, wie der Vater ein glühender Marxist, der Carl seine Flucht in den Westen nie verziehen hat. Doch die Rundreise – zusammen mit Tochter und Enkel – bringt neben vielen kleinen Aha-Erlebnissen für ihn letztlich nur eine bestürzende Erkenntnis: dass er auch früher nur Interesse an sich selber hatte. Jetzt, im Alter, zahlt er dafür den Preis.

"Einsamkeit, das war es, worum es ging. (…) Wenn er die Augen schloss, war es, als stür­ze er in einen vollkommen leeren Raum, mit nichts darin, das ihm Auftrieb gab."

Auf der Suche nach Erfüllung

Alter und Einsamkeit, die Privilegien von Männern, die politischen Spannungen, die verdrängte Vergangenheit, eine Welt, die, geschüttelt von Pandemien und Klimafrevel, vermutlich einem Abgrund entgegentaumelt – ein dickes Themenpaket, das die Autorin ihrem Carl Kruger da auflädt. Ein Prototyp seiner Spezies, der alles nur zur Kenntnis nimmt, beobachtend, fragend, wenn auch distanziert-nörglerisch.

Und doch gelingt es Annette Mingels, dass man ihn zu verstehen lernt, in seinen Grenzen, seinem Leid, seiner Resignation. Sie schreibt klar, unprätentiös, fast verhalten – und dringt durch ihre Sprache zum Wesenskern eines Menschen vor, der bei aller emotionalen Unfähigkeit immer seine Art Erfüllung suchte.

"Es war so einfach gewesen, den Konflikten auszuweichen und sich Hals über Kopf in das Neue zu stürzen: nie hatte er sich so lebendig, so mit sich im Reinen gefühlt, wie zu Beginn einer Affäre."