Buchcover: "Vorwärts" von Eva Meijer

"Vorwärts" von Eva Meijer

Stand: 06.10.2023, 12:00 Uhr

Eva Meijer erzählt in "Vorwärts" von den Experimenten zweier Aussteiger-Gruppen – und ihrem Scheitern. Ein lebenskluger, psychologisch fein nuancierter Roman, der vor allem durch seine sinnliche Naturpoesie bezaubert. Eine Rezension von Nicole Strecker.

Eva Meijer: Vorwärts
Übersetzt aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Verlag btb, 2023.
256 Seiten Paperback. 15 Euro.

"Vorwärts" von Eva Meijer

Lesestoff – neue Bücher 06.10.2023 05:45 Min. Verfügbar bis 05.10.2024 WDR Online Von Nicole Strecker


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Auf der Suche nach alternativen Lebensformen

Den Traum hatten wohl schon viele: Einfach mal aussteigen. Anders leben, der Natur näher und dem eigenen Körper. Und in einer anti-materialistischen Gemeinschaft. Aber wie das so ist, wenn Utopien wahr werden: Beim Realitäts-Check verlieren sie doch viel von ihrem Glanz. So geht das auch den beiden Gruppen, die in Eva Meijers Roman nach alternativen Lebensformen suchen.

"So hatte ich es mir vorgestellt: traumhaft, warm, Erde unter meinen Fingernägeln und nach Pflanzen riechende Hände, zartgelbe Sommertage, von der gleichmütigen Sonne verwöhnt. 'Au, au, au', Clémence sprang auf. 'Eine Biene'. Sie war in die Kniekehle gestochen worden."

Und schon ist es vorbei mit der Idylle. 1924. Zwei Pärchen und ein schwuler Mann suchen das autarke, alternative Leben auf einem abgeschiedenen Bauernhof in Frankreich. Über ihre Erfahrungen verfasst die Ich-Erzählerin Sophie Manifeste und Zeitungs-Artikel.

Sinnlicche Tagebucheinträge

Außerdem pflegt das Grüppchen den "Naturismus", sprich: Läuft nackt herum. Die drei Männer und zwei Frauen sind Anarchisten, und der vorliegende Text ist Sophies Tagebuch, in dem sie ein Jahr lang das Aussteiger-Experiment reflektiert, quasi als niederländisch-weibliche Variante von Henry David Thoreaus Buch "Walden".

Wunderbar sinnlich lässt Eva Meijer ihre Ich-Erzählerin die Erfahrungen protokollieren: die Düfte der Natur, die Hitze, Himbeersaft auf der Haut, Schweiß und schwere Muskeln. Doch von Anfang an zeigen sich auch Risse in der Gemeinschaft. Machtrangeleien und aggressiv geführte Diskussionen über die ideologische Ausrichtung.

"Worte können Gespräche bilden, die sich in alle Richtungen bewegen, die zwischen Menschen wachsen und so zur Entstehung von etwas Neuem führen. (…) Sie können aber auch dazu benutzt werden, die schon vorgegebenen Linien noch zu verstärken, um Wahrheiten in Stein zu meißeln."

Ein neuer Versuch in der Gegenwart

Und dann war's das auch mit der Toleranz. Als sich zudem Sophie in Clémence verliebt, gerät das Gefüge im Quintett vollends in Schieflage. Denn kann es wirklich Liebe ohne Besitzansprüche geben? Das ist eine der zentralen Fragen dieses Romans, die auch im zweiten Teil wieder aufgegriffen wird.

Dann sind wir in der Gegenwart bei der Ich-Erzählerin Sam. Sie hat Sophies Tagebuch gelesen und will das Experiment wieder aufgreifen. Gemeinsam mit ihrer Partnerin Jona und einem anderen Pärchen zieht sie in ein altes Bauernhaus in Friesland. Allerdings hat Jona Liebschaften mit anderen Frauen. Sie will eine offene Beziehung, wie sie sagt:

"Das Konzept der Monogamie kam erst auf, als Menschen anfingen, Ackerbau zu betreiben und sich Land aneigneten. In der Folge wurden auch Frauen zum Besitztum gemacht.“ Sie nippt an ihrem Wein. 'Das ist engstirnig.'"

Scheitern mit Humor

Die Lebensreformer von 1924 aus Teil eins des Buches halten immerhin ein Jahr lang durch, ehe die Situation dramatisch, ja tödlich eskaliert. Bei den jungen Leuten der Gegenwart in Teil zwei des Buches kollidieren die unterschiedlichen Lebenskonzepte bereits nach wenigen Wochen – womit Autorin Eva Meijer auch ein Statement setzt: Der Individualismus unserer Zeit verträgt sich kaum noch mit dem Ideal eines harmonischen Kollektivs.

Psychologisch sehr klug und sensibel lässt Meijer ihre beiden Aussteiger-Gruppen jeweils scheitern, wobei sie ihre zwei Revoluzzer-Casts durchaus mit einer Prise Humor besetzt hat: Da gibt es den autoritären Dogmatiker, das verträumte Blumenkind oder die Eso-Tante. Allerdings folgt aus der Spiegelung der beiden Geschichten allenfalls die Erkenntnis, dass der Traum vom alternativen Dasein ebenso unausrottbar wie unlebbar ist. Das formale Arrangement dieses Romans läuft also etwas ins Leere. Dafür bezaubert dieses Buch auch in der Übersetzung von Hanni Ehlers mit unglaublich schöner Natur-Poesie und aphorismus-kurzen Einsichten wie…

"…ein Zuhause ist ein Haus plus Zeit."

Das eigene Leben hinterfragen

Worte regnen wie Tropfen herab. Und wenn Brombeeren geerntet werden oder das vielstimmige Gesummse und Gebrumme von Insekten belauscht wird, möchte man eigentlich am liebsten gleich selbst hinaus in die Natur.

So lässt uns dieser Roman mal wieder die Prämissen des eigenen Lebens hinterfragen – man muss ja nicht gleich zum Aussteiger werden.