Buchcover: "Dotterland" von Karoline Therese Marth

"Dotterland" von Karoline Therese Marth

Stand: 05.09.2023, 07:00 Uhr

Barbie-Pink war gestern, bei Kathlen soll die Welt eidottergelb sein. Stattdessen: geschiedene Eltern, komplizierte Freundinnen und die verwirrende Erfahrung, dass Sex mit Mädchen besser ist als der mit Jungs. Karoline Therese Marth hat mit "Dotterland" einen bemerkenswerten Coming-of-Age-Roman vorgelegt. Eine Rezension von Oliver Pfohlmann.

Karoline Therese Marth: Dotterland
Droschl, 2023.
120 Seiten, 21 Euro.

"Dotterland" von Karoline Therese Marth

Lesestoff – neue Bücher 05.09.2023 05:21 Min. Verfügbar bis 04.09.2024 WDR Online Von Oliver Pfohlmann


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Der freie Wille

Kathlen spielt gerne "Die Sims". Bei dieser Videospiel-Simulation eines Familienlebens kann man den 'freien Willen' der Figuren nach Belieben ein- oder ausschalten, verrät uns die heranwachsende Ich-Erzählerin in Karoline Therese Marths Debütroman. Ist der freie Wille aktiviert, kümmern sich die Spielfiguren selbstständig um ihre Bedürfnisse. Ist er aber deaktiviert, muss man ihnen Stück für Stück sagen, was sie tun sollen, also essen, arbeiten gehen oder schlafen.

"Den freien Willen der Sims schalte ich aus, sonst essen sie immer allein und räumen die Teller nie weg, wie bei mir zu Hause. In meiner Sims-Familie gibt es pünktlich um neunzehn Uhr Abendessen, und alle müssen bei Tisch sein. Weggeräumt wird auch gemeinsam."

Von der Geburt bis zum Abitur

Eine Videospiel-Familie als Ersatz für ein kaputtes Elternhaus ohne Ordnung und Sicherheit – das ist ebenso plausibel wie anrührend. "Dotterland", so der Titel von Marths Roman, ist ein schmales Werk von kaum 120 Seiten; es erzählt ein Mädchenleben von der Geburt bis zum erfolgreich bestandenen Abitur beziehungsweise der Matura, wie es im Österreichischen heißt.

Frühe Verlusterfahrungen

"Dotterland" ist der Coming-of-Age-Roman der 28-jährigen Autorin aus Wien betitelt, weil sich die zehnjährige Kathlen ein Traumland ausdenkt, in dem alles nur aus dem leckeren Dotter ihres Frühstückseis besteht, auch der Prinz, der sie, die Prinzessin, auf seinem Dotterpferd holen kommt.

Diese eigenwillige Mädchenfantasie kann aber nur kurz die frühen Verlusterfahrungen in Kathlens Leben überdecken: den Tod des Großvaters, eine Mutter im Krankenhaus, schließlich die Scheidung der Eltern und das völlige Verschwinden des Vaters aus dem Familienleben. Mit all den für ein unverständiges Kind aus einer zerbrechenden Familie charakteristischen Schuldgefühlen.

Von Erfahrungen und Beziehugen

Überhaupt ist es ist eine in vielem typische Kindheit und Jugend eines Mädchens in den Nuller-Jahren, die Karoline Therese Marth in ihrem Romanerstling erzählt: mit dem Leben in einer Patchworkfamilie, in der jeder mit sich selbst beschäftigt ist. Mit diversen Freundschaften und den üblichen Eifersüchteleien Heranwachsender, mit pubertären Sinnkrisen, Selbstverletzungen und Drogenerlebnissen, mit ersten romantischen Erfahrungen und bald auch den ersten handfest sexuellen.

Man muss sogar sagen: Für ihr zartes Alter von 14, 15 Jahren führt Kathlen ein irritierend buntes Sexleben. Früh schon stellt sich Marths Protagonistin Fragen nach Ich und Identität; ein Grund dafür scheint zu sein, dass Kathlen eben nicht nur Jungs anziehend findet. Wie selbstverständlich führt sie dabei mehrere Beziehungen parallel, erfährt sich und ihren Körper auf immer neue Weise.

"Wenn Mona meine Hand drückt, 'erzähls mir' flüstert, mich mit diesem wartenden Blick ansieht, ist es, als würde sich ein Raum öffnen. Es ist ein Raum, der nicht immer da ist. Manchmal ist er da, aber die Tür lässt sich nicht öffnen, manchmal hat er keine Tür, und oft weiß ich nicht einmal, dass es diesen Raum gibt. Doch wenn er da ist, wenn Mona ihn mir öffnet, dann weiß ich, dass ich dort sein will."

Notizbuchartige Einträge von berührender Direktheit

Inhaltlich ist Marths Roman also nicht unbedingt originell, dafür aber durchaus interessant geschrieben. "Dotterland" besteht aus kurzen Schnappschüssen, aus notizbuchartigen Einträgen, manchmal banal, gelegentlich aber von einer berührenden Direktheit.

Das hat zur Folge, dass das erzählende Ich mit dem erlebenden deckungsgleich ist, oder anders gesagt: Es gibt in diesem Roman keine Reflexionsebene, niemand, der die Dinge nachträglich einordnet oder erklärt. Somit bleibt das Füllen von Lücken und Leerstellen der Leserin/dem Leser überlassen. Und solche Fragen gibt es viele: Warum zum Beispiel haben sich die Eltern getrennt? Oder: Warum hält Kathlen das, was sie mit Mona macht, nicht für 'richtigen Sex'?

Eine unfreiwillige Komik

Das macht Marths Roman durchaus reizvoll zu lesen – anfangs jedenfalls. Denn die Kehrseite dieses formalen Kniffes ist, dass die, sagen wir, fünfjährige Kathlen fast genauso erzählt wie die sechzehnjährige. Tonfall oder Satzbau ändern sich von der ersten bis zur letzten Seite kaum.

Das ist nicht nur unplausibel, es wirkt bei der Lektüre auch zunehmend unbefriedigend. Und unfreiwillig komisch, wenn man bedenkt, dass die Protagonistin schon an der Schule einen Kurs für kreatives Schreiben besucht. Für die Autorin, die übrigens in Wien Sprachkunst studiert hat, heißt das: Bei einem zweiten Roman besteht durchaus noch Luft nach oben.