Buchcover: "Laufendes Verfahren" von Kathrin Röggla.

"Laufendes Verfahren" von Kathrin Röggla

Stand: 14.07.2023, 16:46 Uhr

Juristische Chronik, künstlerische Auseinandersetzung, intellektuelle Interpretation. Kathrin Rögglas "Laufendes Verfahren" ist ein literarischer Schmelztiegel über den NSU-Prozess.

Kathrin Röggla: Laufendes Verfahren
S.Fischer, 208 Seiten, 24 Euro

"Laufendes Verfahren" von Kathrin Röggla

Lesestoff – neue Bücher 26.07.2023 05:31 Min. Verfügbar bis 25.07.2024 WDR Online Von Moritz Holler


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Röggla konzentriert sich auf das Täterfeld

Während im Saal 101 des Oberlandesgerichts München einer der wichtigsten und meist beachtesten Prozesse in der Geschichte Deutschlands läuft, ist Schriftstellerin Kathrin Röggla mit von der Partie. Sie verfolgt die juristische Aufarbeitung der rechtsradikalen Mordserie der Terrorgruppe NSU von der Beobachter-Tribüne aus. Ähnlich wie Emmanuel Carrère, der den Prozess um die islamistische Anschlagsserie 2015 in Paris journalistisch begleitete, scheint auch Röggla einen teils dokumentarischen Anspruch zu haben. So beschreibt sie Prozessmomente und -etappen, skizziert Beteiligte aus dem Nazi-Milieu und Tatort-Zeugen. Es werden Scharaden der Verteidigung gezeigt, Ballistik-Berichte und psychologische Gutachten erörtert. Röggla konzentriert sich auf das Täterfeld. Die Opfer lässt sie pietätvoll außen vor.

"Man erhoffe sich Aufklärung, werden die Angehörigen und Überlebenden nicht müde zu betonen, die Unterscheidung von Sieg und Niederlage, erfahren wir, ist keine, die Angehörige mit sich herumtragen, das tun andere."

Zitate, Fachvokabular, eigene Gedanken und Beobachtungen werden zu einer vieldeutigen Collage

Röggla orchestriert in "Laufendes Verfahren" Zitate, Fachvokabular, eigene Gedanken und Beobachtungen zu einer vieldeutigen Collage. Auch, weil sie ihre wiederkehrenden Nachbarinnen und Nachbarn auf der Empore häufig zu Wort kommen lässt und so eine Vielzahl an Perspektiven integrieren kann. Ihre Figuren erklären, kommentieren und diskutieren. Unter ihnen die Omagegenrechts, eine engagierte ältere Frau, der Gerichtsopa, ein pensionierter Jurist, Bloggerklaus, ein Online-Journalist im Nebenberuf und eine junge, aufgebrachte Frau mit Migrationshintergrund namens Yildiz. Ihr Eigenname immer versehen mit einem Präfix, je nach Stimmung und Situation. Sie lässt, wie alle anderen, neben einer wörtlichen Lesart, auch eine abstrakte Interpretation zu, hier ein Gefühl des Ausgeschlossen-Werdens.

"'Aber bin ich jetzt noch Teil eurer Gruppe', versucht es die Grundsatzyildiz noch ein letztes Mal leise flüsternd, die Gemeinschaft zu einer Gruppe degradierend und doch wissend, dass auch darauf niemand hier reagieren wird."

Ein sperriges, unbequemes Werk

"Laufendes Verfahren" ist ein sperriges, unbequemes Werk, das sich einer klaren Deutung entzieht, dafür viele Fragen aufwirft. Röggla überrascht auf jeder Seite mit ihrem Sprachgefühl und stilistischer Reichhaltigkeit: Wortspiele und Wortschöpfungen, Übertreibungen, Grotesken, eine Art analytischer Meta-Ebene – all das fließt hier hoch verdichtet in einen rhythmischen, mäandernden Text ein. Der Sound ist konzentriert, mal staunend, mal abgeklärt. Eine häufig benutze Zeitform ist das Futur 2. Eine Wahl, die möglicherweise die Gewöhnung an die Gräueltaten, die langsamen Mühlen des Gesetzes, die Vorhersehbarkeit des Verfahrens und auch das gesellschaftliche Abschließen mit der Mordserie als singulärem Ereignis akzentuieren soll. In jedem Fall erzielt Röggla so eine entrückte, teilnahmslose Stimmung.

"In den ganzen Nullerjahren werden wir also die Nazis übersehen haben und mit übersehen das Tatgeschehen, das wir einer Türkenmafia zugerechnet haben oder einer diffusen Kleinkriminellenszene. Wir werden nicht weiter darüber nachgedacht haben, so was kommt vor, dass man nicht darüber nachdenkt, wir waren eben anderweitig beschäftigt."

Der braune Sumpf bleibt tief und trüb

Röggla verurteilt dabei den Prozess keineswegs, eine gewisse Skepsis hinsichtlich seiner Vollständigkeit und Durchschlagskraft ist allerdings spürbar – etwa bezüglich der von ihr behaupteten mangelnden Kooperation des Verfassungsschutzes. Es bleiben Unbehagen und die dunkle Ahnung, dass sich der wahre Mittäterkreis nicht auf die hier angeklagten Personen reduzieren lässt. Der braune Sumpf bleibt tief und trüb.

"In der Hauptverhandlung, in der im Prinzip schon alle Würfel gefallen sind durch die Anklageschrift, die einen engen Zirkel gezogen hat um ein Trio, ein kleines fachmännisches Trio mit vier mutmaßlichen Helfern, das das alles alleine angestellt haben soll, die zehn Morde, die Kölner Bomben, die Banküberfälle, mitsamt den ganzen Recherchen, wie der 10000er Liste, in der zehntausend Personen aus ganz Deutschland zu potenziellen Angriffszielen erklärt werden – Politiker, Juristinnen, Ärzte, Künstlerinnen."

Im Saal 101 wird Recht gesprochen

Trotz der relativen Kürze von 208 Seiten ist "Laufendes Verfahren" ein komplexes Buch, das zeigt, wie hier im Saal 101 Recht gesprochen und der Wahrheitsfindung gedient wurde. Röggla veranschaulicht auch, wie verschieden die Wahrnehmung hierzu schon bei einer Hand voll Menschen ausfallen kann. Aus diesem schwierigen Stoff hat sie ein kunstvolles und kritisches Buch destilliert, das auch formal immer wieder zu überraschen weiß.