Buchcover: "Zwei Monde" von Maria Kuncewiczowa

"Zwei Monde" von Maria Kuncewiczowa

Stand: 09.10.2023, 12:00 Uhr

Ein malerisches polnisches Städtchen steht im Mittelpunkt von Maria Kuncewiczowas 1933 erstmals erschienenem Roman in Erzählungen "Zwei Monde": Hier begegnen sich mehrere Welten, die der Arbeiter, Händler, Bürger und Bohemiens. "Zwei Monde" ist ein poetischer sommerlicher Reigen. Eine Rezension von Ulrich Rüdenauer.

Maria Kuncewiczowa: Zwei Monde. Ein Roman in Erzählungen.
Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew.
Mit einem Nachwort von Anna Artwińska.
Guggolz Verlag, 2023.
252 Seiten, 22 Euro.

"Zwei Monde" von Maria Kuncewiczowa

Lesestoff – neue Bücher 09.10.2023 05:29 Min. Verfügbar bis 09.10.2024 WDR Online Von Ulrich Rüdenauer


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Neue Räume erschließen

Natürlich ist es eine Binse, dass die Welt ein Ort ungleicher Verhältnisse und unüberbrückbar scheinender Differenzen ist, und dass doch alle ein Auskommen miteinander finden müssen. Man sollte es sich jedoch zuweilen bewusst machen, den Blick schärfen, die Unterschiede erkennen, schätzen oder auch überwinden.

Die Literatur hat nicht die Aufgabe, in dieser oder anderer Hinsicht pädagogisch zu wirken. Aber mit ihren Mitteln kann sie uns beim Sehen helfen, Räume erschließen, die uns nicht zugänglich sind oder in die wir bislang nicht hineinschauen wollten. Wo wir in Kazimierz Dolny wären, einem "klitzekleinen" Städtchen an der Weichsel, gelegen im Osten Polens.

"Es war komisch und sehr traurig. Wenn man seine marionettenhaften Angelegenheiten betrachtete, so hatte man den Eindruck, dass hinter dem lückenhaften Mauerkranz der Burg, die oben auf dem Berg vor sich hin weißte, der Krater eines Vulkans rauchte, angefüllt mit Blumen und Müll."

Das Leben in der Idylle

Maria Kuncewiczowa, eine der bedeutenden polnischen Autorinnen des 20. Jahrhunderts, hat diesen Ort zum Schauplatz eines sommerlichen Erzähl-Reigens gemacht. Sie selbst hatte sich dort 1927 mit ihrem Mann niedergelassen. Sie war dem Charme von Kazimierz Dolny ebenso erlegen wie andere Künstlerinnen und Künstler, die dort gerne ihre Sommerfrische verbrachten.

Zwischen den von der Idylle angelockten Bohemiens und den Einheimischen gab es zwar Berührungen, aber die waren punktuell. Ansonsten lebte man nicht nur in unterschiedlichen Welten, sondern auch in anderen Rhythmen.

"Mena sagte: 'Der Mond war rot, als diese Menschen schlafen gingen… Jetzt ist er weiß. Ganz anders. Ob diese wissen, wie ein weißer Mond aussieht?' Jeremi antwortete: 'Vielleicht sind es überhaupt zwei Monde… Einer für die da, und der andere – nur für uns.'"

Geschichten von denen und von uns

"Zwei Monde" heißt Kuncewiczowas 1933 erschienene Sammlung mit zwanzig Geschichten, und diese handeln im Wechsel von denen da und uns. Uns: Das sind die Künstler und Tagträumer, die sich in der Nacht ihren Vergnügungen hingeben. Die anderen: Das ist die einfache Bevölkerung, die ihrem Tagwerk nachgeht und dem Leben wenig Freudvolles abtrotzen kann – der Eisenwarenhändler Mistig, der Gepäckträger namens Moszek, seine Tochter Rahel, der Botengänger Pytkowski oder die Schneiderin Walentyna, die in ihren Erinnerungen badet wie andere in Wasser.

Immer wieder überschneiden sich die Wege dieser Menschen, auch mit jenen des Malers Pawel, der bei seiner Tante Walentyna zu Besuch ist und in der jungen Rahel ein Modell entdeckt, das ihm vom Glück des bescheidenen Lebens zu erzählen scheint. Walentyna reagiert empört, als sie ihren Neffen dabei ertappt, wie er das Mädchen dafür bezahlt, in der Gosse, einem schmutzigen Rinnsal, für ihn zu posieren.

"'Aber bitte, Tante, mein Gott, die Gosse… Freilich. Aber was schadet das eigentlich? Warum denn keine Gosse?' Die Krajewska riss ihre Hand los. 'Ja warum nicht?', schäumte sie 'warum? ! Denn es reicht, dass sie hier wahrhaftig fließt und stinkt! Und die Menschen vergiftet!' Ihre Stimme blieb ihr in der Kehle stecken. Paweł nutzte das, um sich weiter ungeschickt zu erklären: 'Nun gut, aber bitte, Tante… Sie fließt und stinkt – das ist doch nicht alles. Denn wie sie funkelt! Hier, schau nur. Dieses Mädchen. Es sieht den Schmutz nicht… es spürt den Geruch nicht… Es schöpft die Sonne aus diesem Bach.'"

Ein besonderer Blick für das Mit- und Nebeneinander

Hier prallen nicht das einzige Mal verschiedene Schichten aufeinander, das Ästhetische auf das Soziale, die Realität der einen auf die der anderen. Kuncewiczowa hat dafür einen besonderen Blick, auch für das Mit- oder besser Nebeneinander der christlichen und jüdischen Bevölkerung, mit allen Vorurteilen und komplizierten Arrangements.

Sie hat zudem eine ganz besondere Sprache dafür, brillant von Oliver Peter Loew ins Deutsche gebracht, zuweilen fast symbolistisch, nie beschönigend. Ihre poetischen Bilder sind hinreißend, sie lassen die Szenerie zuweilen unwirklich werden, schweben und ins Träumerische abgleiten; umso drastischer ist dann das Erwachen.

Eine feinsinnige psychologische Autorin

"Zwei Monde", dieser Roman in Erzählungen, ist eine bemerkenswerte Entdeckung. Kuncewiczowa dürfte den meisten Leserinnen und Lesern kaum ein Begriff sein. Zwar sind seinerzeit in der DDR und in Österreich einige Bücher von ihr herausgekommen – unter anderem "Die Fremde", ihr bekanntester Roman aus dem Jahr 1936.

Aber als feinsinnige psychologische Autorin, als die sie mit dem Aufblühen der feministischen Literaturwissenschaft gewürdigt wurde, kann man sie hierzulande erst jetzt gebührend wahrnehmen.