Buchcover: "Das dritte Königreich" von Karl Ove Knausgård

"Das dritte Königreich" von Karl Ove Knausgård

Stand: 21.05.2024, 07:00 Uhr

Sein autofiktionales Romangroßprojekt "Mein Kampf" hat Karl Ove Knausgård berühmt gemacht. Auch im dritten Teil seiner "Morgenstern" - Reihe geht es wieder um die großen Fragen, ums Leben, Lieben und Sterben. Eine Rezension von Jörg Magenau.

Karl Ove Knausgård: Das dritte Königreich
Aus dem Norwegischen von Paul Berf.
Luchterhand, 2024.
656 Seiten, 28 Euro.

"Das dritte Königreich" von Karl Ove Knausgård

Lesestoff – neue Bücher 21.05.2024 05:26 Min. Verfügbar bis 21.05.2025 WDR Online Von Thilo Jahn


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Eine der vielen Figuren im literarischen Kosmos von Karl Ove Knausgård ist der Architekt Helge. Zu seinem 60. Geburtstag hat eine große norwegische Tageszeitung ein Interview mit ihm geführt, das er nun zu Hause in seinem Arbeitszimmer liest. Da sagt er unter anderem:

"Ich glaube, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Und dass das, was zwischen den Menschen entsteht, was wir gemeinsam erschaffen, mehr ist als das, was jeder für sich ist. Und dass das vielleicht eine Form des Göttlichen ist."

Diese Sätze sind zentral, weil sie genau das beschreiben, was Knausgård literarisch unternimmt: Alle seine zahlreichen Figuren sind gleich viel wert, schon deshalb, weil sie alle als Ich-Erzähler auftreten. Aus der Summe der Selbstporträts entsteht zugleich etwas, das größer ist als jede einzelne Person: ein erzählerischer Ereignisraum, den kein Einzelner überblickt. Alle Figuren Knausgårds sind gefangen in ihren Routinen und ihren Nöten, in Beziehungsproblemen und beruflichen Schwierigkeiten.

Da ist zum Beispiel der Lehrer Gaute, der von einer krankhaften Eifersucht auf seine Frau umgetrieben wird, während sie, die Pastorin Kathrine von ihm schwanger ist, ohne es ihm gesagt zu haben. Da ist der Polizist Geir, der einen grausamen Ritualmord an drei jungen Musikern einer Black-Metal-Band aufklären soll und der zwischen zwei Frauen lebt, die nichts voneinander wissen. Oder die neunzehnjährige Line, die sich in einen so undurchschaubaren wie attraktiven Philosophiestudenten verliebt.

"Das dritte Königreich" ist der dritte, mit 650 Seiten vergleichsweise schmale Band eines groß angelegten Romanprojektes. Die Figuren und die Ereignisse sind zum größten Teil bereits bekannt, denn Knausgård konzentriert sich erneut auf dieselben zwei Tage wie im ersten Band, wo ein mysteriöser neuer Stern am Himmel erscheint. Nun jedoch dreht er Perspektiven um.

So schilderte in "Der Morgenstern" der Literaturwissenschaftler Arne seine Ferien an einem Fjord, wo seine Frau Tove einen psychotischen Schub erlitt. Jetzt erzählt er dieselbe Episode aus ihrer Sicht, so dass sich aus dem Bekannten eine ganz andere Ereignisfolge ergibt. Er erzählt nicht weiter, sondern verharrt an selber Stelle und geht über neue Einzelheiten in die Tiefe. Er zeigt, wie sich Wirklichkeit und Wahrnehmung unterscheiden, wie Rationalität und Wahn als zwei Systeme nebeneinander existieren und die Figuren dennoch in derselben Welt leben.

Dafür steht symbolhaft der neue Stern. Seit er erschienen ist, sind in ganz Norwegen keine Menschen mehr gestorben. Selbst ein Mann, der nach einem Unfall im Koma liegt und der von den Ärzten schon für tot erklärt wurde, zeigt zu deren Erstaunen Spuren von Bewusstsein. Die Mediziner versuchen, die Hirntätigkeit zu messen und zu verstehen, was ein Gedanke ist. Kann es Gedanken geben, wo kein Bewusstsein ist? Oder umgekehrt? Was ist ein Gedanke überhaupt? Und wie kann es sein, dass die fleischliche Materie des Leibes Immaterielles wie das Bewusstsein hervorbringt?

"Es war wie ein Blick ins Unbekannte. Es war eine Sprache, aber so fremd und unverständlich, dass sie aus den Tiefen des Weltalls zu uns hätte gesandt sein können. Es war unfassbar, dass wir uns selbst sahen. Dass unsere Kodierung der Welt und all dessen, was wir waren, sichtbar wurde. Das Mysterium bestand darin, dass es sich von innen nicht wie ein Code anfühlte, sondern wie die Welt."

Karl Ove Knausgårds "Das dritte Königreich" ist wie das gesamte "Morgenstern"-Projekt ein abgründiger philosophischer Roman über die Liebe und das Leben mit Mystery-Elementen und einer Kriminalhandlung. Auch mit diesem dritten Teil ist nichts erklärt und nichts gelöst. Knausgård zieht es vor, Fragen zu stellen, die Unruhe und Unentschiedenheit der Menschen zu zeigen, um gerade durch diese Offenheit das Geheimnis der Existenz zu erfassen.

Da draußen in der Welt geschehen viele seltsame Dinge. Das Allermerkwürdigste ist aber das eigene Leben und die Tatsache, als ein "Ich" in der Welt zu sein. Diesem Mysterium ist Knausgård auf der Spur. Ihm dabei zu folgen ist ein Leseabenteuer mit enormem Suchtpotential.