"Ich, Sperling" von James Hynes
Stand: 09.11.2023, 12:10 Uhr
Eine nie dagewesene Coming-of-Age Geschichte eines Sklavenjungen in einem Bordell im 4. Jahrhundert nach Christus. James Hynes gelingt ein gewaltiges Werk fernab aller Klischees des sterbenden Römischen Reichs, was das Hörbuch zu einem Erlebnis macht – wohlgemerkt nur für Erwachsene. Eine Rezension von Corinne Orlowski.
James Hynes: Ich, Sperling
Ungekürzte Lesung von Walter Kreye.
Der Audio Verlag, 2023.
2 CDs 21 Std. und 33 Min. Laufzeit, 28 Euro.
Lassen Sie sich entführen ins Römische Imperium, in die Stadt Carthago Nova im Südosten Spaniens. Auf den Straßen wimmelt es vor Menschen, Räder rumpeln, Hufe klappern. Dort lebt ein Waisenjunge, von dem niemand weiß, woher er stammt.
"Ich, [...] Sohn von niemandem, Vater von niemandem, geliebt von niemandem, Sklave, Hure, [...] Eunuch, Mörder, Zuhälter, vielleicht Jude, vielleicht Syrer, schreibe diese Geschichte meines Lebens nieder."
Er lebt im Halbdunkel einer Küchenecke in einer Taverne, an die ein Bordell angeschlossen ist. Hier wächst er bei Prostituierten auf, sogenannten Wölfinnen. Sie sind benannt nach griechischen Musen und ihm Mutter, Schwester, Leidensgenossinnen in einem. Insbesondere eine Frau kümmert sich um ihn: Euterpe. Liebevoll nennt sie ihn Sperling. Der ist in nichts herausragend gut, aber in allem gut genug, um in der Welt nicht unterzugehen.
"Er ist weder so imposant wie das Huhn noch so flink wie der Mauersegler. Eigentlich ist er bloß eine kastanienbraune Kugel mit einer kleineren Kugel obendrauf [...] „Das ist der Sperling“, sagt sie. 'Kannst du seinen Namen sagen?' 'Sperling.' 'Gut.' [...] 'Wenn du wählen darfst', flüstert sie, 'sei wie der Sperling.'"
Sperling erwartet ein schreckliches Schicksal. Auch er wird zu einer Wölfin und muss im ominösen Obergeschoss der Taverne arbeiten. Jede Nacht, wenn die Männer zu ihm aufs Zimmer kommen, wird er zum Sperling, verlässt seinen Körper und hofft, einfach so davonzufliegen.
"So seltsam es dir, geschätzter Hörer, erscheinen mag, kam es mir in dieser Phase meines Lebens einfach nicht in den Sinn, dass ich etwas mit Männern gemeinsam haben könnte, mit diesen großen, lauten, behaarten, gewalttätigen, unberechenbaren Wesen."
James Hynes gibt aus der unschuldigen Perspektive eines Kindes, beinahe sekündlich das Geschehen wieder. Im Kopf läuft ein Film ab. Man meint, alles hören und schmecken zu können und sich im Bordell von Carthago Nova bestens auszukennen. Denn als Leser verlässt man diesen Ort äußerst selten. Und davon lebt dieses erzählwütige Buch.
"Ich, Sperling" ist ein brutaler Roman und nichts für Zartbesaitete. Ein Aufkleber 'FSK 18' wäre durchaus angebracht. Die Gewalt und der sexuelle Missbrauch an Kindern ist teilweise nur schwer zu ertragen. Aber Hynes schlachtet die Brutalität nicht voyeuristisch aus. Nie wird es explizit.
"Sie hob das Ölfläschchen vom Tisch hoch. 'Auf keinen Fall sollte dir das ausgehen!' Sie erklärte mir, wann ich dem Freier in die Augen sehen sollte und wann nicht. Sie zeigte mir, wie ich mir mit der Zunge über die Lippen fahren und zu ihm aufblicken sollte. Sie beschrieb mir, wie ich meine Hüften bewegen, wie ich den Mann berühren und was ich sagen sollte."
"Ich, Sperling" hat Sogwirkung. Das liegt zum einen an der großartigen Übersetzung von Ute Leibmann, die es schafft, die vielen Dialoge in eine modernere Kunstsprache zu übertragen – und zum anderen an der Lesung von Walter Kreye.
Der 81-jährige hat eine seinem Alter entsprechende Stimme. Sie ist aber nicht brüchig, sondern von Format. Würdevoll führt er durch die Geschichte. Mal ausrufend, mit großer Geste, dann wieder leichtfüßig, fast zart, schafft es Kreye, dass man sich in eine Welt fallen lassen kann, die fast 2000 Jahre zurückliegt. Eine Zeit, in der das Römische Reich im Begriff ist, sich aufzulösen.
Der Titel "Ich, Sperling" ist angelehnt an den berühmt gewordenen historischen Roman "Ich, Claudius" von Robert Graves. Nur ist das Buch von James Hynes ein durch und durch fiktionales Werk. Denn er gibt den Menschen eine Stimme, von denen es wenig Überlieferung und keine Primärquellen gibt: Frauen und Sklaven. Hynes hat zehn Jahre recherchiert, um die Lebensrealität und den Alltag in der Spätantike abbilden zu können.
"Ich habe versprochen, dich nicht wissentlich zu belügen, lieber Hörer, aber ich kann nicht versprechen, dass alles, woran ich mich erinnere, auch wahr ist."
Das alles macht "Ich, Sperling" zu einer außergewöhnlichen und nie dagewesenen Coming-of-Age-Geschichte und das Hörbuch zu einem gewaltigen Erlebnis – wohlgemerkt nur für Erwachsene.