Buchcover: "Treibgut" von Julien Green

"Treibgut" von Julien Green

Stand: 25.03.2024, 12:00 Uhr

Am Rande des Abgrunds: Julien Greens Paris-Roman "Treibgut" erzählt von einer aus den Fugen geratenen Welt, die der Realität nicht in die Augen sehen will. Eine Rezension von Dirk Hohnsträter.

Julien Green: Treibgut
Aus dem Französischen übersetzt von Wolfgang Matz.
Hanser Verlag, 2024.
400 Seiten, 28 Euro.

"Treibgut" von Julien Green

Lesestoff – neue Bücher 25.03.2024 05:36 Min. Verfügbar bis 25.03.2025 WDR Online Von Dirk Hohnsträter


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"Die Nachrichten aus Deutschland haben mich in eine düstere Stimmung versetzt. Unruhen im Rheinland. Wie an einem Roman arbeiten, während der Friede bedroht ist?"

notiert der Schriftsteller Julien Green im Jahr 1930. Nach ersten, triumphalen Erfolgen schreibt sich der Amerikaner in Paris aus einer Schaffenskrise heraus und verfasst den Roman "Treibgut", der 1932 erscheinen wird. Aber nicht von der äußeren Bedrohung Europas am Vorabend des Zweiten Weltkriegs ist in diesem Buch die Rede, sondern von ihrer inneren Gefährdung. Es erzählt von einer Welt, die längst aus den Fugen geraten ist, doch deren Bewohner es nicht wagen, sich der Realität zu stellen:

"Tatsächlich, alles musste ausgelöscht werden, bis hin zur letzten Erinnerung an jene peinliche Szene, bei der, zum ersten Mal, seit das Schicksal diese drei Menschenwesen vereint hatte, die Wahrheit zu ihnen sprach, in ihren rauhen, ihren gefährlichen Worten. Mit der Geduld von Ameisen, die auf den Ruinen ihres verwüsteten Baus arbeiten, errichteten sie von neuem eine fiktive Ordnung und verbrauchten dafür die gesamte gute Laune, zu der sie fähig waren."

Greenes Buch setzt ein mit einem einsamen Spaziergänger an der nächtlichen Seine. Philippe, so der Name des Protagonisten, bemerkt ein streitendes Paar, ignoriert jedoch den Hilferuf der Frau, geht nach Hause und lenkt sich ab. Doch der Vorfall lässt ihn nicht los und treibt ihn erneut in die nächtliche Stadt. Dieses Mal verlässt er das bürgerliche Paris und wagt sich vor in entlegenere Viertel. Wir folgen einem Mann, den es dazu drängt, sich selbst zu schaden.

"In allen großen Städten gibt es Zonen, die entfalten ihr wahres Bild erst im Halbdunkel. Am Tage bleiben sie versteckt, tragen ein banales und gutmütiges Gesicht und verkleiden sich für die Augen von jedermann. (...) im Abenddämmer jedoch erwacht derselbe Ort zu einem Leben, das aussieht wie die Parodie des Todes. Was heiter war, wird fahl, was schwarz war, erbleicht und strahlt in düsterem Glanz, voll Freude, endlich zu existieren. Das Gaslicht bewirkt die Verwandlung."

Greenes Großstadtroman kommt mit wenig Personal aus: neben Philippe handelt es sich vor allem um seine von ihm verachtete und ihn betrügende Ehefrau Henriette sowie seine Schwägerin Éliane, die ihn heimlich liebt. Sie sind Teil eines unverdient wohlhabenden, kraftlos gewordenen Bürgertums. Die zerstörerische Macht unterdrückter Begierden, ein Abgrund von Verlorenheit und Grausamkeit kriecht geradezu durch die Zeilen dieses traumwandlerisch voranschreitenden Buches:

"Diesen imposanten, gutgebauten Körper hatte er geerbt wie den Rest, wie die Brieftasche seines Vaters, die auf Vorsicht bedachten Gewohnheiten, den abergläubischen Ordnungssinn. All das bildete ein Vermächtnis, unteilbar und wertvoll zugleich, und trotzdem nutzlos. Nutzlos, denn mit all den Reichtümern war die Kraft, die sie geschaffen hatte, nicht weitergegeben worden. Die Erbschaft war ohne Wert."

Die Unhaltbarkeit der gegenwärtigen Lage ist in jedem der drei Teile dieses Romans spürbar. Neben seiner Zeitgenossenschaft zeichnet sich Greens Buch jedoch vor allem durch seine Sprache, seinen Rhythmus und seine meisterliche Genauigkeit aus. Es ist diese einzigartige Schreibweise, die Greens Roman so unverändert lesenswert macht – sei es bei der Beschreibung der Stadtlandschaft von Paris, sei es bei der Figurenzeichnung:

"Er war groß und schien kaum älter als Philippe. Ein, zwei Mal drehte er, mit einstudierter Steifheit, ein langes, aristokratisches Profil zum Licht; er blieb bei seinem gewissermaßen überraschten Gesichtsausdruck an der Grenze zwischen Unverschämtheit und extremer Höflichkeit, sagte einige banale Worte, aber mit einem Bedacht, als verrate er soeben das Geheimnis des Regenmachens."

Der Übersetzer Wolfgang Matz hat "Treibgut" anhand erst jetzt verfügbarer biografischer Quellen neu übersetzt, kommentiert und mit einem hochinformativen Nachwort versehen. Zum Glück, denn es lohnt sich, diesen bedeutenden Roman in unseren unruhigen Zeit neu zu entdecken.