Buchcover: "Eliete. Das normale Leben" von Dulce Maria Cardoso

"Eliete. Das normale Leben" von Dulce Maria Cardoso

Stand: 18.09.2023, 07:00 Uhr

Eine verheiratete Frau und Mutter in der Midlife-Crisis. Auf einer Dating App findet sie ihr Selbstbewusstsein wieder in dem Roman "Eliete. Das normale Leben" der portugiesischen Schriftstellerin Dulce Maria Cardoso. Eine Rezension von Dorothea Breit.

Dulce Maria Cardoso: Eliete. Das normale Leben
Aus dem Portugiesischen übersetzt von Steven Uhly.
Secession Verlag, 2023.
280 Seiten, 24 Euro.

"Eliete. Das normale Leben" von Dulce Maria Cardoso

Lesestoff – neue Bücher 18.09.2023 05:56 Min. Verfügbar bis 17.09.2024 WDR Online Von Dorothea Breit


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Familienleben

Eliete ist Immobilienmaklerin, ihr Gatte Jorge Programmierer. Sie haben zwei Töchter: Màrcia studiert in Italien, die jüngere Inês durchlebt gerade eine launische Phase.

"'Lass die Kleine', sagte Mama, 'ich schaue sie an und es ist, als sähe ich dich, sie ist genau wie du, zweimal auf dieselbe Stelle gespuckt.' Ich mochte Mamas grobe Ausdrücke nicht, aber das zweimal auf dieselbe Stelle gespuckt, mit dem sie meine körperliche Ähnlichkeit mit Inês unterstrich, störte mich besonders. Obwohl Mama mich nicht gefragt hatte, wie es mir ging, antwortete ich: 'In letzter Zeit bin ich übermüdet, es gibt jetzt so viel Arbeit, (...) vor ein paar Jahren waren die Häuser zum Spottpreis zu haben und niemand wollte sie kaufen, jetzt kostet jede Baracke ein Vermögen, und wenn sie noch teurer wären, würden die Leute noch mehr kaufen.'"

Gegenwart und Vergangenheit fließen ineiander

Eliete meidet Begegnungen mit der Mutter, die als Näherin in einem Geschäft für Brautmoden arbeitet. Ein Krankenhausaufenthalt der Großmutter zwingt sie dazu. Der Arzt diagnostiziert eine Demenz. Und mit einem Schlag ist nichts mehr, wie es war für die Enkelin, die Ich-Erzählerin in "Eliete. Das normale Leben" der portugiesischen Schriftstellerin Dulce Maria Cardoso.

Gegenwart und Vergangenheit, direkte und erlebte Rede fließen nahtlos ineinander im monologischen Erzählstrom der Rückschau Elietes auf ihr Leben: Das Aufwachsen im Haus der Großmutter – die Mutter ist sechzehn bei ihrer Geburt, der Vater stirbt, als Eliete fünf Jahre alt ist. Von da an schläft sie im Ehebett neben der Mutter, bis endlich eine eigene Wohnung gefunden ist.

"Obwohl Papas Tod fast alle unsere Gespräche unterwanderte, sprachen wir nur selten offen darüber. Unsere Familie war ein kompliziertes Puzzle mit vielen fehlenden Teilen, Teilen, die mit Papa zu tun hatten, dessen Abwesenheit im Zentrum des Puzzles klaffte. Diese Abwesenheit hatte fast etwas Ehrfurchtgebietendes."

Vernachlässigung der eigenen Bedürfnisse

Der Mythos um den Vater ist der Jugendlichen rätselhaft. Sie träumt davon, eines von den Mädchen zu sein, die in Lissabon wohnen, nicht in einem Arbeitervorort wie sie, und davon, Dichterin zu werden.

Stattdessen arbeitet sie sich hoch zur Immobilienmaklerin, lebt immer noch in Cascais, räumt auf, um die Großmutter vorübergehend bei sich aufzunehmen, und denkt nach über ihr Familienleben: Ihre große Liebe zu Jorge und die beiden Mädchen, auf Kosten der Vernachlässigung ihrer eigenen Bedürfnisse. Sie fühlt sich übersehen von Jorge und den Mädchen, und deshalb im Recht, deren Profile in den Sozialen Medien auszuspionieren. 

"Am Ende kenne ich die nicht, die ich im Leben am meisten liebe, aber ich bin versucht, Nein zu sagen, ich wusste fast nie, wie ich denken sollte, was ich fühlte, oder wie ich das, was ich fühlte, zutreffend denken sollte. Aber auch wenn ich es nicht gedacht hätte, fühlte ich mich von Unbekannten umgeben."

Die Erlösung aus dem Selbstmitleid

Ein um sich selbst kreisendes, verletztes Ich. Die Autorin hat ein Faible dafür, Hauptsätze durch Kommata aneinanderzureihen; im Deutschen hätten der Syntax ein paar Punkte mehr gutgetan. Die Ich-Erzählerin schraubt sich in eine vernichtende Spirale der Vorwürfe hinein. Kein Freundinnen-Verhältnis zu den Töchtern, kein Sex mit Jorge, schlaffe Haut, beruflich Mittelmaß.

Erlösung aus dem selbstmitleidigen Säurebad der Gefühle findet Eliete als Monica maskiert auf einer Dating-App, samt Schritt-für-Schritt-Anleitung für die Lesenden. Ein emanzipatorischer Akt, der Eliete ihr Selbstbewusstsein zurückgibt. Während ihr Jorge Pokémons nachjagt. Und es kommt noch besser!

"Ich konnte mich nicht erinnern, wie viele Jahre es her war, dass ich eine Einladung von einem Mann zum Abendessen erhalten hatte. Die Verheirateten auf Tinder, selbst die, die ich mehr als einmal getroffen hatte, waren nicht dafür geeignet, dass ich mit ihnen essen ging, sie waren nur Körper, die mir Wonne bereiteten und denen ich Wonne bereitete. Es machte mir nichts aus, dass sie das Leben verbargen, das sie schulterten, ich tat das Gleiche, oder dass sie mir im Voraus mitteilten, was ich mit ihnen anstellen sollte und was sie mit mir anstellen wollten, dass wir als Körper existier­ten, ohne Phantasie und ohne Überraschung, digitale Geister, die sich bei jeder Begegnung verflüchtigten. Duarte war anders."

Nichts bleibt unausgesprochen

Als die demente Großmutter am Ende selbstvergessen das Geheimnis um Elietes Vater Anthonio lüftet, scheint das auch nur noch Nebensache zu sein in ihrem neuen Leben als selbstbewusste Frau.

Wieviel Autofiktion sich in diesem Roman versteckt, bleibt offen. Obgleich andererseits nichts unausgesprochen bleibt, was bisweilen ermüdet, wenn alles analysiert und kommentiert wird in diesem lesenswerten Buch über portugiesische Befindlichkeiten; ein Land, in dem nach Kolonialgeschichte, Nelkenrevolution und EU-Beitritt noch immer Gespenster der Diktatur herumgeistern.