Hörbuchcover: "Als wir an Wunder glaubten" von Helga Bürster

"Als wir an Wunder glaubten" von Helga Bürster

Stand: 02.11.2023, 12:00 Uhr

Eine Dorfgemeinschaft sucht Ende der 1940er Jahre Orientierung. Da verbreiten sich wieder Hexen- und Aberglaube. Katja Danowskis interpretiert ruhig, dennoch spannend Helga Bürsters nach wahren Begebenheiten entstandenen Roman. Eine Rezension von Christian Kosfeld.

Helga Bürster: Als wir an Wunder glaubten
Gelesen von Katja Danowski.
Goya Lit, 2023.
1 CD, 6h und 30min Laufzeit, 23 Euro.

"Als wir an Wunder glaubten" von Helga Bürster

Lesestoff – neue Bücher 02.11.2023 05:23 Min. Verfügbar bis 01.11.2024 WDR Online Von Christian Kosfeld


Download

"Betty bediente sich gerne in der Natur. Hunger hatte sie immer. Sie aß Beeren, junge Blatttriebe, Bucheckern und Haselnüsse, alle machten das, denn es gab nie genug und was für Eichhörnchen und Rehe gut war, konnte auch ihr nicht schaden."

Die elfjährige Betty Abels und ihre Mutter Edith schlagen sich im Jahre 1949 mehr schlecht als recht im Dörfchen Unnenmoor durch. Der Mann und Vater Otto wird noch vermisst. Da ist der Spökenkieker Fritz, der Heilkräuter kennt und viele Gerüchte, Annie, die allein mit dem behinderten Sohn Willy den Hof bestellt, oder die alte Guste, die Betty märchenhafte Geschichten vom Moor erzählt. Auch von den Gefangenen, die dort im Krieg umgebracht wurden.

"Die Toten, all die Toten, die fanden keine Ruhe. [...] Guste hatte sie auch gesehen, da waren sie noch keine Lichter gewesen. Auf einem großen Haufen hatten sie gelegen. Wie kaputte Puppen mit verrenkten Gliedern. Die fremden Soldaten hatten sie alle gezwungen, sich anzusehen, was sie nicht hatten wissen wollen. Die Unnenmoorer und alle Nachbardörfer, auch die aus der Stadt hatten sie hergebracht und alle mussten daran vorbei. Die Frauen hatten den Kindern die Augen zugehalten."

Wunderheiler und Endzeitprediger ziehen umher, erzählen den Menschen von göttlichen Strafen und Seelenheil. Auch die aus Schlesien geflüchtete Katie ist unterwegs, bietet ihre Dienste an, etwa den Blick in ein angeblich magisches Wunderauge aus Kristall, in die Zukunft. Edith und Betty haben sich mit ihr angefreundet.

"Katie paffte, die Küche vernebelte sich. 'Dein Otto kommt nicht wieder. [...]' 'Das sagt Theo auch.' 'Und er hat Recht! Nach all der Zeit. Und wenn der im Osten war [...] Ich hab die Schlachtfelder gesehen.' Betty wagte wieder einen Blick. Katie saß noch immer da, nun starrte sie ins Leere. Die Mutter nahm das Auge in die Hand und hielt es gegen das fahle Licht der Petroleumlampe. 'Vielleicht weiß das Auge ja doch mehr. Ist schließlich ein Erbauge.'"

Die allgemeine Not, Vermisste, Hunderttausende, die heimatlos durch Europa ziehen: das verunsichert die Menschen im Dorf. Anni vermutet, dass ihr Sohn Willy und ihr Mann Josef verhext wurden. Sie hat Edith mit den roten Haaren in Verdacht. Die kocht für Katie und die alte Guste Suppe, und ist mit Theo, dem Zeitungsreporter, eine Beziehung eingegangen. Anni wird von Fritz Spökenkieker in ihrem Aberglauben bestärkt.

"Rote Haare, Sommersprossen sind des Teufels Zeitgenossen. An den alten Sprüchen war immer was Wahres dran. [...] Vielleicht hatte sie übertrieben, aber gab Fritz ihr nicht Recht? Er hatte sie ausdrücklich gewarnt, als Anni ihn letzte Woche geholt hatte, wegen der Krämpfe. Willi litt darunter und kein Kraut kam dagegen an, nur Fritz konnte helfen. 'Hat sich die Abel’sche in letzter Zeit hier herumgetrieben?' [...] 'Der ist nicht zu trauen. Und Betty ebenso wenig. Pass auf, dass sie euch nicht verhext.'"

Dann rollen schwere Maschinen an. Das Moor soll trocken gelegt werden. Ein kriegsversehrter Mann kehrt heim ins Dorf und als der Bauleiter Gert Hausmann auf sonderbare Weise zu Tode kommt, spitzt sich die Situation zu.

In "Als wir an Wunder glaubten" erzählt Helga Bürster atmosphärisch dicht und anschaulich eine Geschichte nach wahren Begebenheiten. Der Glaube an Übersinnliches hat sich in den Nachkriegjahren durchaus verbreitet. Und man kann in dieser Hoffnung auf einfache Antworten Parallelen zu unserer Gegenwart erkennen.

Sprecherin Katja Danowski findet in ihrer sechsstündigen Lesung einen ruhigen, geheimnisvollen Grundton. Wir sind ja im Moor… Sie kann aber auch plattdeutsch klönen, und glaubhaft und spannend von der Suche der Menschen nach Halt und Orientierung in bewegten Zeiten erzählen. Ein gelungenes Hörbuch.