Buchcover: "Zeiten der Langeweile" von Jenifer Becker

"Zeiten der Langeweile" von Jenifer Becker

Stand: 01.09.2023, 07:00 Uhr

Eine Aussteigerin löscht sich aus dem Internet – aber damit auch ihre Probleme? Jenifer Becker zeigt sich in ihrem verstörenden Debütroman als Seismologin der Gegenwart von Millennials und Generation Z. Eine Rezension von Corinne Orlowski.

Jenifer Becker: Zeiten der Langeweile
Hanser Berlin, 2023.
240 Seiten, 23 Euro.

"Zeiten der Langeweile" von Jenifer Becker

Lesestoff – neue Bücher 01.09.2023 05:24 Min. Verfügbar bis 31.08.2024 WDR Online Von Corinne Orlowski


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Real-Life-Reset

"CUbybyxx" – diesen Abschiedsgruß schreibt Mila an all ihre Kontakte, die ihr wichtig erscheinen. Sie wartet zwei Tage, nur eine einzige Reaktion. Dann drückt sie auf den Button "Konto löschen". Eine ungewohnte Anspannung macht sich breit, dabei wollte sie doch gerade ihre Ruhe haben und die Angst vor Kontrollverlust und dem Urteil der anderen überwinden.

"Ich sagte mir, dass es nur vorübergehend sein würde. Eine Art Detox: sich einmal aus dem System rausnehmen, Süchte lokalisieren, klarer benennen können, danach wieder gemäßigter mit dem Stoff umgehen – ein Real-Life-Reset."

Nach dem Löschen kommt die Langeweile

Was passiert, wenn man sich aus dem Internet löscht – aus allen Foren, allen Kanälen, allen Accounts, die man jemals angelegt hat, von Amazon über Ebay bis StudiVZ? Kein Google Maps mehr, kein Streaming, kein Onlinebanking. Das spielt die Autorin Jenifer Becker in ihrem Debütroman "Zeiten der Langeweile" durch. Klingt vielversprechend. Ja, und was passiert? Mila wird unfassbar langweilig.

"Wann hatte ich mich das letzte Mal länger als zwei Minuten gelangweilt, ohne dass ein flüchtiges, virtuelles Antidot zur Verfügung stand? Ich fing an, mich abgekapselt zu fühlen, weil ich nicht mehr wirklich wusste, was bei Leuten, mit denen ich mich zum Teil seit Jahren nicht getroffen oder die ich nie persönlich gekannt hatte, täglich passiert."

Popkultureller und tagesaktueller Bezüge

Jenifer Becker reiht ihre Sätze mit Tempo aneinander. Ihre Protagonistin zählt kleinstteilig alles auf, ihre Einkäufe, ihre Gedanken und beobachtet sich und die Welt ganz genau – promovierte Kulturwissenschaftlerin, die Mila ist, manchmal arg akademisch.

Der parataktische Schreibstil versetzt einen schnell in einen tranceähnlichen Zustand. Allerdings ist der ziemlich eintönig. Schon nach wenigen Seiten setzt bei einem selbst die Langeweile ein. Interessant, ist das ein Trick? Der Text ist voller popkultureller und tagesaktueller Bezüge – Corona, die BeReal-App, der Beginn des Ukraine-Krieg. Und hin und wieder fühlt man sich ertappt.

"Als ich die FAZ probeweise aufschlug, hatte ich den Impuls, mit meinem Daumen und meinem Zeigefinger ein Bild zu vergrößern. Es war seltsam, keine Möglichkeit zu haben, Begriffe nachzuschauen oder die Reporter:innen zu googeln, um ihre politische Agenda zu verorten."

Kein Recht auf Vergessenwerden

Dieses Debüt ist faszinierend zeitgeistig. Aber man weiß lange nicht so recht, ob das einem gefällt. Jenifer Becker schwingt sich hier zur Seismografin der Lebensrealität der Digital Natives auf. Die fühlt sich manchmal wie eine Parallelwelt an. Etwas verstörend, weil man ahnt wie tief das digitale Rabbit Hole reicht. Wo soll das hinführen?

Das Recht auf Vergessenwerden greift im Internet jedenfalls nicht. Und Mila realisiert, dass sie ihre Vergangenheit nicht abstreifen kann. Sie treibt ihre Löschaktion paranoid immer weiter, bis sie sich selbst aufzulösen beginnt. Sie wird nach und nach und ganz real zu jenem gläsernen Menschen, dem sie sich im Netz zu entziehen versucht. Mila wird einsam.

"Ich beneidete Ida dafür, dass sie sich nicht davor fürchtete, ein Klischee zu sein. Entweder sie war so vanilla, dass sie sich darüber keine Gedanken machte, oder sie hatte die Angst schon längst transzendiert und festgestellt, dass es das Leben immens erleichterte, den digital konstruierten, postfeministischen Lebensentwürfen einfach nachzugehen, sich nicht dafür zu schämen, vegan Rezepte zu preppen und zwei Katzen zu haben, die einem Gesellschaft leisteten, weil man Dauersingle war."

Tagträume werden zu Albträumen

Während die anderen sie für ihre Aussteigerfantasien belächeln, sie für durchgeknallt, narzisstisch und privilegsgeblendet halten, sieht Mila ihre Abkehr als Widerstand gegen neoliberale und patriarchale Gesellschaftsstrukturen, als einen revolutionären Akt, weil sie sich gegen Big Data auflehnt. Und sie fragt sich: Wo sind die weiblichen Aussteigerinnen? Eremitinnen drifteten in der Geschichte nur in Psychosen ab: Hildegard von Bingen in Visionen, Emily Dickinson in Sozialängste.

Und Mila? Die gerät innerhalb eines Jahres in eine Sackgasse, verlässt Berlin, lebt in Tagträumen, die zu Albträumen werden, verwahrlost und verliert jede Leichtigkeit. Nach den Zeiten der Langeweile folgen nur psychotische Zustände? Wie traurig und entmutigend. Leser älteren Jahrgangs könnte der Roman durchaus verschrecken. Aber vermutlich verstehen die bei den vielen technischen und popkulturellen Begriffen eh nur Bahnhof. Nach der Lektüre fühlt man sich jedenfalls ziemlich leer und bleibt mitleidig mit der Protoganistin zurück.