"Die Mandarins von Paris" von Simone de Beauvoir
Stand: 04.10.2024, 07:00 Uhr
Die Meisterdenker und ihre Irrungen. Simone de Beauvoirs "Die Mandarins von Paris" ist ein facettenreiches Sittenbild der französischen Nachkriegsgesellschaft und Bestandsaufnahme der Konflikte zwischen links und rechts. Eine Rezension von Dirk Fuhrig.
Simone de Beauvoir: Die Mandarins von Paris
Übersetzt aus dem Französischen von Amelie Thoma und Claudia Marquart.
Rowohlt, 2024.
1024 Seiten, 45 Euro.
Das Buch wurde bei seiner Veröffentlichung als Schlüsselroman über Jean-Paul Sartre, über dessen Zerwürfnis mit Albert Camus – und über eine eigene große Liebesaffäre – gelesen. Simone de Beauvoirs Buch beginnt am Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Sommer 1944 rücken die alliierten Truppen auf Paris vor.
"Jeden Morgen weckte uns dieselbe Frage: Weht das Hakenkreuz noch über dem Senat? (…) Und dann ist der Herbst vorübergegangen, und vorhin, als wir unter den Lichtern des Weihnachtsbaums unsere Toten endgültig vergaßen, wurde mir bewusst, dass wir nun wieder anfingen, jeder für sich zu existieren."
In den intellektuellen – linken – Kreisen kulminiert die Debatte über die künftige geostrategische Ausrichtung Frankreichs. In deren Zentrum stehen neben Sartre und Camus, den führenden "Mandarins" vom linken Pariser Seineufer, der deutsche Emigrant Arthur Koestler. In de Beauvoirs Roman treten die drei unter den Namen Dubreuilh, Henri Perron und Scriassine auf.
"'Wohlstand? Für wen und zu welchem Preis?', empörte sich Dubreuilh. 'Ich kann den Tag kaum erwarten, da wir zur amerikanischen Kolonie werden!' 'Wäre es Ihnen lieber, wenn die Sowjetunion uns annektieren würde?' Scriassine gebot Dubreuilh mit einer Handbewegung Einhalt. 'Ich weiß. Sie träumen von einem geeinten, autonomen, sozialistischen Europa. Aber wenn Europa den Schutz der USA ablehnt, wird es zwangsläufig Stalin in die Hände fallen.' 'Die UdSSR plant keinerlei Annexion.'"
Frappierend, wie solche Wortwechsel, die Simone de Beauvoir vor mehr als 70 Jahren in Endlosschleife in ihren Roman hineingeschrieben hat, an manche gegenwärtigen politischen Diskussionen über das Verhältnis Europas zu Russland erinnern. Die in die Öffentlichkeit getragenen ideologischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit haben das Bild des französischen Intellektuellen, vor allem in Form des "Existentialisten", zu einem Mythos werden lassen. Simone de Beauvoirs Roman ist eine Bestandsaufnahme dieser Bewegung, deren Gedanken sich in mäandernden Kaffeehausplaudereien formten und in Artikeln und Gegenartikeln in berühmten Zeitschriften: "Combat" (also "Kampf") von Albert Camus und "Les temps modernes" von de Beauvoir und Sartre.
Ähnlich wie die Namen der Akteure sind die Zeitschriftentitel in dem Mandarin-Roman leicht dechiffrierbar. "Schlüsselroman" ist vordergründig ein abwertender Begriff, doch haben wir es hier mit einer damals ganz neuen Form des literarischen Schreibens zu tun. Dass de Beauvoir für ihr Buch den Prix Goncourt erhielt, der dezidiert für ein fiktives Werk, also einen Roman verliehen wird, spricht dafür, dass die Meinungsmacher im Literaturbetrieb die sprachlichen und kompositorischen Qualitäten über den Aspekt der Demaskierung stellten.
Wobei sich die stilistische Kraft auch in der durchaus gelungenen, gestrafften Neuübersetzung insofern relativiert, als man es mit einem rund 1000 Seiten langen Sermon zu tun hat, in dem sich Motive und Themen permanent wiederholen. Es ist ein streckenweise ermüdender Bewusstseinsstrom, eine Art Gesang, jedenfalls ein suchender Schreibgestus, auf den man sich beim Lesen dezidiert einlassen muss.
Heute könnte man bei diesem Werk von einem "autofiktionalen" Text avant la lettre sprechen. Parallel zum Debattentanz der Mandarins blickt die Protagonistin Anne (die wir als Stimme Simone de Beauvoirs wahrnehmen dürfen) auf ihre eigene Gefühlswelt.
"In Roberts Büro wurde diskutiert, sie redeten über den Marshallplan, die Zukunft Europas, die Zukunft überhaupt, sie sagten, das Kriegsrisiko steige (…). Der Krieg geht uns alle an, und ich nahm diese besorgten Stimmen nicht auf die leichte Schulter, dennoch dachte ich nur an den Brief, an eine Zeile dieses Briefs: 'Auf der anderen Seite des Ozeans sind die zärtlichsten Arme kalt.'"
Zentrale Episode dieser Introspektion ist eine amouröse Affäre mit dem in Chicago lebenden Schriftsteller Lewis Brogan – der in der Realität Nelson Algren hieß. Simone de Beauvoirs Briefe an diesen Liebhaber und Freund sind unter dem Titel "Eine transatlantische Liebe" erschienen.
Das Bedeutende an dem "Mandarin"-Roman ist die Verknüpfung des Politischen mit dem Privaten. Der Blick auf die Welt trifft hier auf die existentialistische Seelenschau. Die feministische Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert zitiert in ihren Nachwort Simone de Beauvoir, wie diese selbst über ihren 1954 veröffentlichten Roman urteilte:
"Ich wollte ganz darin aufgehen, ich wollte mein Verhältnis zum Leben, zum Tod, zur Zeit, zur Literatur, zur Liebe, zur Freundschaft, zum Reisen beschreiben. Ich wollte auch andere Menschen schildern und vor allem die fiebrige, von lauter Enttäuschungen begleitete Geschichte der Nachkriegszeit erzählen."
Zeitgeschichte einerseits – Leben, Liebe, Tod andererseits. Simone de Beauvoirs üppiger Roman umfasst den ganzen Kosmos gesellschaftlicher, intellektueller und individueller Existenz.