"Miss Muriel" von Ann Petry
Stand: 17.12.2024, 07:00 Uhr
Mit dem Roman "The Street" wurde die 1997 verstorbene afroamerikanische Autorin Ann Petry kürzlich wiederentdeckt. Auch mit ihren in dem Band "Miss Muriel" versammelten Erzählungen beweist Petry ihre Fähigkeit, vielschichtige Figuren in einem von Rassismus geprägten Amerika zu zeichnen. Eine Rezension von Ulrich Rüdenauer.
Ann Petry: Miss Muriel
Aus dem Englischen übersetzt von Pieke Biermann.
Nagel und Kimche, 2024.
352 Seiten, 24 Euro.
Die afroamerikanische Autorin Ann Petry wuchs Anfang des 20. Jahrhunderts in einer behüteten Welt auf: Der Vater betrieb einen Drugstore, die Mutter war ausgebildete Friseurin, die Tante Apothekerin – eine angesehene Familie im beschaulichen Ort Old Saybrook in Connecticut, inmitten von weißer Mittelschicht und nur wenigen anderen Schwarzen Einwohnern. Expliziten Rassismus lernte Petry erst kennen, als sie in die Großstadt zog. Die Erfahrung aber, anders zu sein, anders gelesen zu werden, machte sie auch schon als Kind.
"Mir war klar, so, wie ich in diesem Badezimmer mit lauter weißen Wänden aussah, so sah meine Familie in Wheeling, New York, aus. Wir waren die einzige eindeutig schwarze Familie in einer komplett weißen Stadt, und wir fielen auf; wir sahen komisch aus, fremd."
"Der neue Spiegel" heißt diese Erzählung, eine von diversen Geschichten aus dem Band "Miss Muriel", in denen Ann Petry offensichtlich autobiographische Motive verarbeitet hat. Die Story spielt an einem einzigen Tag, der von der Angst um den Vater beherrscht wird: Er, die Zuverlässigkeit in Person, ist eines morgens verschwunden. Das bringt das gesamte Gleichgewicht dieses wohltarierten Familien- und Händlerlebens durcheinander.
Stets ist man darauf bedacht, das Private vom Geschäftlichen zu trennen – die Grenze verläuft mitten durchs Haus, vorn der öffentliche Bereich des Drugstores, hinten die penibel geschützten familiären Räume. Das Verschwinden des Vaters aber ist mehr als eine private Angelegenheit, und es zeigt auf, dass die Race im Alltag vielleicht keine Rolle spielen mag, in der Ausnahmesituation aber schon. Nach einem Schwarzen könne nicht gesucht werden wie nach einem Weißen, die rassistischen Vorbehalte würden selbst bei wohlgesinnten Nachbarn sofort greifen.
"Der Grund könnten ja mangelnde Geldmittel sein (Was für Geldmittel? Seine?), mangelnde Betäubungsmittel, offene Rechnungen, ein Fehler bei einer Rezeptur – Skandal, Skandal, Skandal. Schwarzer Drogist. Ärger mit der Polizei, verschwindet."
Der Vater taucht glücklicherweise wieder auf, und Petry wartet mit einer tragikomischen Wendung auf, um sein Verschwinden zu erklären.
Charles Woodruff in der Geschichte "Der Zeuge" verschwindet auch. Er aber kann nicht mehr zurückkehren. Der verwitwete und emeritierte Englischprofessor wird als gutherziger, etwas einsamer, solider Mann vorgestellt. Weil ihm das Leben ein wenig sinnlos erscheint, nimmt er nach seiner Emeritierung eine Stelle an einer Highschool an – und unterrichtet dort erfolgreich Englisch. Das Unheil nimmt seinen Lauf, als ihn der Pfarrer Dr. Shipley fragt, ob er ihm beim Unterrichten von jugendlichen Straftätern assistieren würde. Es sind sieben verzogene, abgebrühte weiße Jungs, die sonntagabends im Pfarrzimmer zusammenfinden.
Als er einmal auf dem Parkplatz beobachtet, wie die Jungs ein Mädchen belästigen, will er dazwischengehen. Die Situation eskaliert. Die jungen Männer wissen intuitiv, dass sie den alten Schwarzen Mann in der Hand haben: In seiner Gegenwart vergewaltigen sie das Mädchen, er ist hilflos. Der Zuseher verschafft ihnen einen "Extra-Kick" – denn sie wissen, dass Woodruff nicht zur Polizei gehen kann. Keiner würde ihm – dem Schwarzen – Glauben schenken. Ihm bleibt nichts übrig, als die Stadt zu verlassen.
Die kleine Sue allerdings, deren engster Freund Doby ein Hirngespinst ist, weiß sich zu wehren. Sie wird von ihren weißen Mitschülern schikaniert. Lässt sich das aber unter Einsatz ihrer Fäuste nicht gefallen. Sue dürfte ebenfalls ein Alter Ego von Ann Petry sein: Sie entdeckt ihre eigene Stärke und gewinnt den Respekt der anderen Kinder, Doby aber verschwindet just in dem Moment aus ihrem Leben, als sie zu eigener Kraft findet...
"Er war für immer weg. Und sie wusste nicht, warum. Wahrscheinlich hatte es irgendwas mit Erwachsenwerden zu tun, beschloss sie."
Petrys Erzählungen, von Pieke Biermann glänzend ins Deutsche gebracht, bewegen sich zwischen heiterer Kindheitsperspektive und ernüchtertem Erwachsenenblick, zwischen Kleinstadtidylle und Großstadt, zwischen Schwarzem Selbstbewusstsein und rassistischer Alltagserfahrung.
So unterschiedlich sie auch sind, allesamt bezeugen sie Petrys tiefes Gespür für die Ambivalenzen Schwarzen Lebens in den USA, die feinen und nicht so feinen Unterschiede – auch innerhalb der eigenen Community –, aber vor allem für die vielen verstörenden Details, die eine ungleiche Gesellschaft definieren. Ann Petry macht ihre Figuren dabei aber niemals zu Exempeln. Jeder schenkt sie den Eigensinn, die Situation, wenn auch nicht zu ändern, so doch zumindest zu durchschauen.