Buchcover: "Poesie" von Xaver Bayer

"Poesie" von Xaver Bayer

Stand: 18.10.2023, 12:00 Uhr

Wer aufmerksam durch die Straßen, die Stadt, die Welt geht, kann zugleich irritiert und verzaubert werden – das führt uns Xaver Bayer in dem Band "Poesie" mit seinen Prosagedichten vor. Darin entstehen aus konkreten Beobachtungen mitunter rätselhafte Bilder, die uns ein neues, anderes Sehen lehren. Eine Rezension von Ulrich Rüdenauer.

Xaver Bayer: Poesie
Verlag Jung und Jung, 2023.
96 Seiten, 22 Euro.

"Poesie" von Xaver Bayer

Lesestoff – neue Bücher 18.10.2023 05:51 Min. Verfügbar bis 17.10.2024 WDR Online Von Uli Rüdenauer


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Soll einer sagen, der Alltag stecke nicht voller Wunder! In den Büchern Xaver Bayers kann man das Staunen lernen, aber auch das Fürchten, zwischen dem einen und dem anderen ist da immer nur ein kleiner Schritt. Wo das Gewöhnliche ins Absurde und manchmal Schreckliche übergeht, da haben die Texte Bayers ihre Nische gefunden; aber auf diesem schmalen Grat ist manchmal eben auch eine unscheinbare Schönheit zu entdecken. Er macht nun genau dort weiter, und doch ein wenig anders. Anders als in früheren Büchern ist zum Beispiel die Form.

"Poesie" heißt Xaver Bayers jüngstes Buch. Lyrik à la Jan Wagner oder Durs Grünbein darf man aber nicht erwarten. Man könnte von Prosagedichten sprechen, kleinen poetischen Betrachtungen und Beobachtungen, die Alltagsstaub aufwirbeln, in dem man plötzlich die Orientierung verliert und ein wenig verloren gehen kann.

"Von draußen gedämpftes Motorenbrummen, Kindergeschrei, Musik aus einem vorüberfahrenden Auto, wie eine Blume im Zeitraffer, die auf- und gleich wieder verblüht.
Und ein Flugzeug, das seinen Schall hinter sich her zieht wie die Schleppe eines Brautkleids."

Das sind Wahrnehmungen beim Streifen durch eine Straße. Die Welt wird mit einem poetisierenden Blick wahrgenommen: Bei einem Hochhausneubau erscheinen die Balkone wie "herausgezogene Schubladen", "winzige Insekten kritzeln Notate in die Luft", und alles ist immer nur ein Huschen, ein Augenblick, ein Innehalten der Zeit, dass deren Vergehen nur umso deutlicher hervorkehrt.

Auch die Dinge vergehen oder werden verlassen, ein Haus oder ein Zimmer, während eine Fliege ihre Kreise "um das Ticken der Küchenuhr" zieht. Bei allem Zauber, der von den Erscheinungen ausgehen kann, stellen sich immer wieder existenzielle Fragen, hinter denen eine tiefe Trauer lauert und eine lakonische Komik.

"War das der Gipfel des Lebens, und läuft von nun an alles wieder zurück? Nein, alles Schwindel! Man dreht sich um und geht ein paar Schritte rückwärts, und siehe da – da siehe und, rückwärts Schritte paar ein geht und um sich dreht man!"

Das Wunderbare bei Bayer liegt in der Ambivalenz seiner poetischen Miniaturen, oder besser: in der Kunst, seinen melancholischen, beängstigenden Momenten etwas Hinreißendes einzuschreiben, zumindest etwas tröstlich Unvergessliches.

Saisonende im Freibad, die Sommertage werden kürzer, und das lyrische Man betrachtet die Badewartin, wie sie am Beckenrand liegt, raucht und in den Himmel schaut.

"Wenn man jetzt keinen Fehler macht, wird sie ewig dort liegen. Man darf sich nur nicht rühren, kein Wort verlauten lassen und nicht zu lange in der Betrachtung versunken bleiben, sondern, sobald man begriffen hat, dass es jetzt am schönsten war, muss man sich augenblicklich umdrehen und gehen."

Man kann in diesen Texten versinken, in ihren unberechenbaren Bewegungen zwischen lakonischem Blicken und stutzendem Erstarren, in ihrem Versuch, die Zeit anzuhalten, und dem Horror des Vergehens bei seinem Werk zuzusehen, der Natur bei ihrem Krabbeln und Schwirren. Eine große apokalyptische Leere ist da zuweilen, wenn eine "Windhose aus Asche" das Haus verfinstert, die von den "Reifen riesiger Baumaschinen aufgewirbelte Erde" den Garten verschwinden lässt.

Sogar einzelne Buchstaben werden verschüttet, am Ende ein ganzes Wort, aber untergründig überleben sie und treten irgendwann wieder zu Tage. Die Texte wirken manchmal selbst ein wenig wie vom Verschwinden bedroht; oder wie von fern geschrieben, als stecke tatsächlich kein Autor-Ich dahinter, sondern eben ein eigenschaftsloses Man, das beschreibt, was da im Text passiert.

"Am Morgen nach der kalten Nacht
rappelt sich das Gedicht auf vom harten Beton,
taumelt benommen ein wenig hin und her,
vornübergebeugt, als würde es etwas auf dem Boden suchen,
und verliert dabei einzelne Wörter."

Diese verlorenen Wörter sind das Wesentliche. Nach ihnen sucht Xaver Bayer. So kommen einem diese Prosagedichte doch wieder ganz nah, als wollten sie sich und uns mit den Widrigkeiten des Lebens versöhnen. Und uns einen Zugang zur Welt aufzeigen.

"Je achtsamer man schaut,
desto länger dauert der Weg."

Das gilt im Übrigen auch für Xaver Bayers "Poesie": Je achtsamer man darin herumflaniert, desto mehr und desto spannungsreichere Beobachtungen sind zu machen. Man kann lange in ihnen unterwegs sein.