Buchcover: "Baumgartner" von Paul Auster

"Baumgartner" von Paul Auster

Stand: 07.11.2023, 12:10 Uhr

Wie geht es weiter, wenn der Zufall einem die Liebe seines Lebens entreißt? Für Baumgartner, den Titelhelden in Paul Austers neuem Roman, bleibt die Zeit so lange stehen, bis seine tote Frau bei ihm anruft. Ein berührendes Alterswerk des großen amerikanischen Romanciers. Eine Rezension von Oliver Pfohlmann.

Paul Auster: Baumgartner
Aus dem Englischen von Werner Schmitz.
Rowohlt, 2023.
208 Seiten, 22 Euro.

"Baumgartner" von Paul Auster

Lesestoff – neue Bücher 07.11.2023 05:44 Min. Verfügbar bis 06.11.2024 WDR Online Von Oliver Pfohlmann


Download

Jeder Mensch trauert anders. Eine besonders berührende Weise hat S.T. Baumgartner, die Hauptfigur von Paul Austers neuem Roman, für sich gefunden. Denn nicht nur, dass Austers Titelheld seiner verstorbenen Frau Anna weiterhin am Frühstückstisch eine Tasse Kaffee einschenkt. Oder in ihrem Arbeitszimmer sinnloses Zeugs tippt – nur um noch einmal der "Spechtmusik" ihrer Schreibmaschine lauschen zu können, die die Lyrikerin einst im gemeinsamen Haus erklingen ließ. Nein, auf dem Höhepunkt seiner Trauer beginnt Baumgartner der Toten auch Briefe zu schreiben. Nicht irgendwelche, sondern pornografische Liebesbriefe,…

"…wobei er sich die absurde Mühe machte und diese Briefe faltete, in Umschläge steckte, adressierte, mit einer Briefmarke versah und in den Briefkasten warf, gefolgt von dem Vergnügen, sie ein oder zwei Tage später wieder entgegenzunehmen und sich auszumalen, wie Anna sich darüber gefreut haben würde, wenn sie selbst sie in Empfang genommen hätte."

Zu Beginn von Austers Roman sind seit Annas Unfalltod bereits neun Jahre vergangen. Das Leben des 71-jährigen Philosophieprofessors ist noch immer von Wehmut und Einsamkeit geprägt. So sehr, dass sich Baumgartner zum Beispiel irgendwelche Bücher bestellt, weil ihn die Lebendigkeit der jungen Paketbotin ein wenig an Anna erinnert.

Von seiner verstorbenen Frau existiert im Haus nur noch ihr Arbeitszimmer mit ihren Manuskripten. Und in der Küche ein Topf, eine Erinnerung an ihre erste Begegnung im New York der Siebziger. Weil Baumgartner diesen am Romananfang auf dem Herd vergisst und sich prompt die Hand verbrennt, wird eine Kette von schmerzhaft-amüsanten "Slapstick-Pannen" in Gang gesetzt, an deren Ende er sich einbildet, seine Frau rufe ihn aus dem Jenseits an.

"Sie hat keine Ahnung, wie das funktioniert, und versteht auch nicht, warum sie jetzt mit ihm reden kann, sie weiß nur das eine, dass nämlich die Lebenden und die Toten miteinander verbunden sind, und wenn man so tief miteinander verbunden war, wie sie beide es waren, als sie noch lebte, kann dies sich auch im Tode fortsetzen, denn wenn einer vor dem anderen stirbt, kann der Lebende den Toten in einer Art Schwebezustand zwischen Leben und Nichtleben halten, doch wenn auch der Lebende stirbt, ist es aus damit, und das Bewusstsein des Toten ist auf ewig ausgelöscht."

Diese Pannen-Kette im ersten Kapitel ist der Beginn einer neuen Phase in Baumgartners Leben, ein hoffnungsfroher, wenn auch holpriger Neuanfang, mit einem neuen Buchprojekt ebenso wie mit einer neuen Liebe in seinem Leben. Die Pannen-Kette spiegelt aber zugleich das Erzählprinzip des Romans wider. So wie in Austers ausufernden Satzlabyrinthen wird auch die Handlung ständig von Abschweifungen und Einschüben unterbrochen: in Form von Erinnerungen oder Rückblenden, aber auch mit eingeschobenen Texten der toten Ehefrau.

So setzt sich Stück für Stück die Geschichte einer großen Liebe zusammen; man könnte sogar sagen: Die Frau mit dem literaturträchtigen Namen Anna Blume wird zur heimlichen Heldin von Austers Roman. Dieser handelt von Trauer und Einsamkeit ebenso wie vom Wert der Menschlichkeit und der Kraft der Fiktion.

"Muss ein Ereignis wahr sein, um als wahr akzeptiert zu werden, oder macht schon der Glaube an die Wahrheit ein Ereignis wahr, selbst wenn das angeblich Geschehene gar nicht geschehen ist? (…) Wenn die Geschichte sich als so verblüffend und so stark erweist, dass man nur noch staunen kann und das Gefühl hat, sie habe einem zu neuem und tieferem Verständnis der Welt verholfen  – spielt es dann eine Rolle, ob die Geschichte wahr ist oder nicht?"

"Baumgartner" – der nunmehr 18. Roman des berühmten New Yorker Autors – ist erneut ein Werk voller Anspielungen und Querverweise, auf Austers Vorbilder wie Kafka ebenso wie aufs eigene Werk und Leben. Wenn sich bei aller Komik und Ironie in ihm auch ein Ton von Wehmut und Abschied vernehmen lässt, liegt das wohl nicht allein am alternden Protagonisten. Sondern auch am 76-jährigen Autor, der seit Monaten nicht nur gegen den Krebs kämpft, sondern erst im letzten Jahr auch seinen Sohn verloren hat.

Nach dem Zwölfhundertseiten-Wälzer "4 3 2 1" ist Auster mit "Baumgartner" wieder in überschaubarere Romangefilde zurückgekehrt. Doch erhält der 200-Seiten-Text durch all die Einschübe eine erstaunliche Tiefendimension. Mag sein, dass er nicht ganz an Austers große Werke der Vergangenheit heranreicht wie "Die Musik des Zufalls" oder "Das Land der letzten Dinge". Und auch, dass sein zweideutiges Ende zu viele Fragen offenlässt. Ein berührend-schönes Alterswerk ist Paul Auster mit "Baumgartner" dennoch geglückt.