Buchcover: "Helle Sommer" von Sophie Astrabie

"Helle Sommer" von Sophie Astrabie

Stand: 29.05.2024, 07:00 Uhr

Eine Jugendliebe wird zum Lebensdrama: Sophie Astrabie schildert in ihrem Roman "Helle Sommer" die emotionale Verstrickung zweier Heranwachsender ebenso präzise wie die gesellschaftlichen Zwänge und Strukturen, die das Erwachsenwerden und die Suche nach Unabhängigkeit bestimmen. Eine Rezension von Dirk Fuhrig.

Sophie Astrabie: Helle Sommer
Aus dem Französischen von Isabella Bautz.
S. Fischer Verlag, 2024.
272 Seiten, 24 Euro.

"Helle Sommer" von Sophie Astrabie

Lesestoff – neue Bücher 29.05.2024 05:07 Min. Verfügbar bis 29.05.2025 WDR Online Von Dirk Fuhrig


Download

"Billie" – was soll man schon werden mit so einem Vornamen. "Billie Pretty" sei eine berühmte amerikanische Sängerin, so hat man dem kleinen Mädchen, das als Waise bei ihrem Großvater aufwächst, die Namenswahl erklärt.

Leider kennt in dem französischen Provinzkaff niemand eine Musikerin, die so geheißen hätte. Als Billie erstmals – wir sind in den späten 90ern – einen Walkman geschenkt bekommt, muss das Mädchen feststellen, dass irgendetwas an der Geschichte nicht stimmt.

"Ich ziehe mir die Kopfhörer von den Ohren und setze sie Maxime auf. Er starrt mich an. 'Ja, und?' 'Das ist Billie Pretty.' 'Nein. Das ist Whitney Houston.' Ich sage nichts. Er sieht mich noch eine Sekunde lang an, dann wendet er den Blick ab. Ich weiß, was er gesehen hat. Er hat ein Mädchen gesehen, deren Welt über ihr zusammenbricht, aber er ist so taktvoll, so zu tun, als sei nichts geschehen. Als sei an dieser Sekunde gar nichts Besonderes gewesen, obwohl sie gerade mein Leben auf immer verändert hat."

Von Billie Eilish konnte man damals noch nichts wissen. Von Billie Holiday natürlich schon. Aber jemand, der Billie heißt, hat es im Frankreich jener Jahre ähnlich schwer wie eine Mandy oder Chantal hierzulande. Der Name als Marker für das Milieu, aus dem man kommt.

"Abends habe ich das Wort 'bescheiden' im Wörterbuch nachgeschlagen. Das mache ich immer, wenn mich etwas ärgert. […] 'Bescheiden' bedeutet 'genügsam' – bescheidene Ansprüche haben. Es bedeutet 'gering' – ein bescheidenes Einkommen. Und es bedeutet 'einfach, schlicht, gehobenen Ansprüchen nicht genügend' – bescheidene Verhältnisse."

Dennoch schafft Billie es nach Paris und in die Redaktion einer Zeitung. Sie wird – ohne Abitur – Journalistin, erfolgreiche Podcasterin. Sie hat eine gute Stimme und Talent. Jedenfalls für die Sprache und den – bescheidenen – sozialen Aufstieg.

Talent für die emotionale Seite des Lebens hingegen fehlt ihr: Ihren Jugendfreund Maxime, für den sie bestimmt zu sein scheint und er für sie, stößt sie immer wieder von sich und vor den Kopf. Sie liiert sich stattdessen – zeitweise – mit einem braven Benjamin: wohl organisierter, kultivierter, gut aussehender, aber eben leicht langweiliger Journalisten-Kollege.

"Ich weiß, wie mein Leben mit Benjamin ausgesehen hätte. Wir wären freitagabends ins Restaurant gegangen, samstags ins Theater und sonntags zu seinen Eltern. Wir hätten zwei Kinder bekommen, einen Jungen und ein Mädchen. Er hätte mir zu Weihnachten Bücher und zum Jahrestag ein Wochenende in Rom geschenkt. Er hätte seine Karriere auf Standby gestellt, damit ich meine hätte vorantreiben können. Er hätte an kühlen Tagen mit dem Schattenplatz auf der Terrasse vorliebgenommen. Er hätte mir alles über Wein, Kunst und Gastronomie beigebracht. Er hätte mir das Ende von Filmen erzählt, bei denen ich eingeschlafen wäre. Er hätte mich glücklich gemacht."

Doch Glück, ein bürgerlich-konventionelles Leben, ist Billies Sache nicht – auch wenn der Roman am Ende gut ausgeht. Ein bisschen allzu gut. Das Happy-End will nicht so recht passen zu der nüchternen Sprache, in der Sophie Astrabie ihre kämpferische Heldin zeichnet.

Es ist in Frankreich in den vergangenen Jahren zu einer Art Trend geworden, im klassenklagenden Geiste der Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux zu schreiben. Der Roman "Der Platz", in dem Ernaux die vermeintlich unverrückbaren Schranken zwischen den gesellschaftlichen Milieus nachgezeichnet hat, wird von Sophie Astrabie an einer Stelle sogar bewusst erwähnt. Anders allerdings als manch anderer Ernaux-Apologetin gelingt es Sophie Astrabie, wirklich eine originäre Geschichte zu erzählen. Die der kleinen Billie, die als Waise aufwächst, die den erstickenden Kleinstadtmief hinter sich lässt und ein freies, selbstbestimmes Leben versucht.

Sieht man von dem kuscheligen Ende ab, ist "Helle Sommer" ein weitgehend klischeefreier Bildungsroman über eine, die es geschafft hat, die sich von ihrer Herkunft nicht hat lähmen lassen und sich fatalistisch in ihr Schicksal ergibt. Sondern nach vorne blickt.