Stichtag

10. Januar 2009 - Vor 90 Jahren: Der Freistaat "Flaschenhals" entsteht

Eine "tolle Groteske" nennt Edmund Pnischeck die Ereignisse, die sich von 1919 bis 1923 zwischen Koblenz und Mainz abspielen. Ereignisse, zu denen der kleine, dicke Bürgermeister der Winzergemeinde Lorch entscheidend beigetragen hat und die ein wenig an die Abenteuer von Asterix im Kampf gegen die Römer erinnern. Alles beginnt, als die Siegermächte nach Ende des Ersten Weltkriegs ins Rheinland einziehen und die westlich des Stroms gelegenen Landesteile besetzen. Zusätzlich errichten sie am rechten Rheinufer genau abgezirkelte, halbkreisförmige Brückenköpfe mit einem Radius von jeweils 30 Kilometern. Die alliierten Strategen übersehen allerdings, dass sich diese Halbkreise nur zum Teil überlappen. So bleibt zwischen Koblenz und Mainz ein kleines unbesetztes Gebiet übrig, dessen Form entfernt an den Hals einer Weinflasche erinnert.

Plötzlich vom restlichen Deutschland abgeschnitten und quasi neutral, nutzen die Bürger der Städtchen Kaub und Lorch die kuriose Lage auf ihre Weise. Unter Führung ihres patriotisch gesinnten Bürgermeisters Pnischeck rufen sie am 10. Januar 1919 den "Freistaat Flaschenhals" aus. "Wir wünschen, dass zwischen Bonn und Mainz wenigstens noch ein Streifen wirklichen deutschen Rheines verbleiben soll, frei von jedem welschen Einfluss", telegrafiert Pnischeck selbstbewusst an die deutsche Waffenstillstandskommission. Wie ein kleiner König stampft der umtriebige Bürgermeister eine Verwaltungsstruktur für seinen Freistaat aus dem Boden und lässt sogar eigene Geldscheine drucken - mit spöttischen Sprüchen gegen den verhassten "Franzmann". Seine "Untertanen", von denen fast jeder einen eigenen Weinberg und meist noch eine Brennerei besitzt, nutzen ihren rechtsfreien Status gehörig aus und beginnen einen regen Schmuggelhandel.

Nachts treiben Bauern ihr Vieh aus den besetzten Gebieten in den Freistaat und werden mit Wein und Schnaps entlohnt. Von den in Lorch vor Anker liegenden Frachtkähnen verschwinden zentnerweise Mehl, Getreide oder Salz und finden auf Knüppelpfaden bei Nacht und Nebel ihren Weg ins Besatzerland. Um die Freistaatler zu schikanieren, stellen die düpierten Franzosen auf ihrer Rheinseite Suchscheinwerfer auf und leuchten in der Nacht das Flussufer ab. Schmuggler entdecken sie dabei selten, dafür aber immer wieder Lorcher Jugendliche, die ihnen mit heruntergelassenen Hosen das Hinterteil entgegenstrecken. "Wenn in Deutschland manche Stadt vor Hungerstreiks bewahrt geblieben ist, so haben sie es den Heinzelmännchen zu verdanken, die damals in Lorch tätig waren", schreibt Edmund Pnischeck später stolz in seinen Erinnerungen an jene wilde Zeit. Am 25. Februar 1923, nach der Besetzung des Ruhrgebietes, ist Schluss mit der Freistaat-Herrlichkeit. Gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrages wird der Flaschenhals von französischen Truppen besetzt. Als sie im November 1924 wieder abziehen, geht das Unikum Freistaat endgültig in der Weimarer Republik auf - zum allergrößten Bedauern seiner Bewohner.

Stand: 10.01.09