Die Zahlen sind erschreckend: Jede vierte Frau wird nach Angaben des Bundesfamilienministeriums im Verlauf ihres Lebens mindestens einmal Opfer häuslicher Gewalt. 60 Prozent dieser Verletzungen finden sich im Bereich von Gesicht, Mund und Kiefer – sagt die Zahnärztekammer Nordrhein.
Das kann etwa ein abgebrochener Zahn sein. Oder ein Bruch des Kiefers. Solche Verletzungen heilen nicht von alleine. Betroffene müssen in eine Zahnarztpraxis. Und dort kann ihnen mittlerweile nicht nur medizinisch geholfen werden, sondern auch dabei, die Verletzungen gerichtsfest zu dokumentieren. So mangelt es auch nach dem Heilungsprozess nicht an Beweisen.
Eine solche gerichtsfeste Dokumentation ist mit einem sogenannten Forensischen Befundbogen möglich – wenn dies die Patientin oder auch der Patient ausdrücklich wünscht. Erstellt haben den Befundbogen die Zahnärztekammern Nordrhein sowie Westfalen-Lippe und die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen Nordrhein und Westfalen-Lippe.
Die Düsseldorfer Zahnärztin Annabelle Dalhoff-Jene.
Wobei es Dokumentationen in Zahnarztpraxen natürlich schon immer gab und gibt. Erfasst wurden bisher die medizinisch relevanten Dinge. "Das sind aber nicht die Sachen, die ein Richter oder ein Rechtsanwalt braucht", sagt die Düsseldorfer Zahnärztin Annabelle Dalhoff-Jene dem WDR und nennt als Beispiele "eine Uhrzeit oder ein zeitlicher Ablauf von Geschehnissen".
Wie die Zahnärzteschaft Betroffenen zusätzlich helfen kann
Eine medizinische Behandlung und eine gerichtsfeste Dokumentation der Verletzungen sind das eine. Das andere, wie Zahnärztinnen und Zahnärzte Opfern häuslicher Gewalt helfen können: Anlaufstellen nennen, wo sie weitere Unterstützung bekommen. Betroffen von häuslicher Gewalt sind in vielen Fällen Frauen. Aus einer gewalttätigen Beziehung herauszukommen, das fällt vielen enorm schwer.
Aysel Sırmasaç vom Dachverband der autonomen Frauenberatungsstellen NRW
Gerade den ersten Schritt zu gehen, sich Hilfe zu suchen, ist für viele Betroffene hart, sagt Aysel Sırmasaç vom Dachverband der autonomen Frauenberatungsstellen NRW dem WDR: "Einer der wichtigsten Gründe ist, dass die Gewalt selbst Frauen schwächt. Und wir machen immer wieder die Erfahrung, dass gerade in Trennungssituationen Frauen noch mehr Gewalt befürchten müssen und daher diesen Schritt nicht gehen."
Expertinnen raten von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen dazu, sich frühzeitig Hilfe zu suchen, beispielsweise das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen anzurufen. Dort könne man sich bei Zweifeln an der Beziehung eine Rückmeldung holen.
Bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung kann die Zahnärzteschaft das Jugendamt einschalten
NRW-Gleichstellungsministerin Josefine Paul
Hilfe soll es bei Zahnärzten für alle geben - gefördert durch die Landesregierung. Gleichstellungsministerin Josefine Paul (Grüne) sagt: "Es ist auch möglich, mit diesem Forensischen Befundbogen Gewalt gegen Kinder zu dokumentieren." Bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung können sich Zahnärztinnen und Zahnärzte sogar direkt ans Jugendamt wenden. Auch so lässt sich in vielen Fällen die Gewaltspirale stoppen.
Über dieses Thema berichten wir im WDR am 15.04.2023 auch im Fernsehen: Aktuelle Stunde, 18.45 Uhr.