Es klingt alarmierend: Erstmals seit April wurden am Mittwoch mehr als 5.000 Corona-Infektionen innerhalb eines Tages gemeldet. Im Frühling lag der Höchstwert bei mehr als 6.000 - also nur wenig höher. Aber ist die derzeitige Situation vergleichbar? Wie ernst ist die Lage?
Zwar könne man von einer zweiten Welle reden, sagt WDR-Wissenschaftsjournalistin Julia Polke, dennoch sei die Situation jetzt anders zu bewerten als im Frühjahr: "Jetzt ist das Virus in der Bevölkerung verteilt und verbreitet sich weiter, vorher waren es vor allem lokale Ausbrüche."
Streeck: Kein Vergleich mit dem Beginn der Pandemie
Vor allem aber hätte sich "unser Gesundheits- und Laborsystem extrem gut entwickelt", schreibt der Bonner Virologe Hendrick Streeck in einem Gastkommentar für das "Handelsblatt". Man habe inzwischen viele neue Daten gesammelt, die Zahl der Testungen mehr als verdreifacht. Auch die (intensiv-) medizinische Versorgung von Covid-19-Patienten habe sich enorm verbessert. "Ein Vergleich mit den Zahlen und Vorgehensweisen im März und April ist daher nicht mehr geboten", so seine Einschätzung.
Zahl der Intensivpatienten steigt
Die steigenden Zahlen seien "dramatisch", meint Rolf Kaiser, Virologe an der Uniklinik Köln, aber: "Im Gegensatz zum Frühjahr sind jetzt mehr jüngere Leute infiziert, und die sind oft weniger schwer erkrankt." Die Hospitalisierungsrate sei ein wichtiger Faktor bei der Einschätzung der Pandemie. Laut RKI kommen aktuell etwa sechs Prozent der bestätigt Infizierten in ein Krankenhaus - sind also so schwer erkrankt, dass sie stationär behandelt werden müssen.
Zwar stieg die Zahl der Corona-Patienten auf der Intensivstation in den vergangenen Tagen merklich, sie ist aber weiterhin vergleichsweise niedrig. So werden rund 620 Covid-Patienten intensivmedizinisch behandelt - eine Woche zuvor waren es noch rund 450. Insgesamt sind in Deutschland aber noch knapp 9.000 Intensivbetten frei.
Der vielbeschworene Sieben-Tage-Inzidenzwert
Ob Beherbergungsverbot oder Sperrstunde - die meisten politischen Entscheidungen zum Coronaschutz werden derzeit mit dem sogenannten Sieben-Tage-Inzidenz-Wert begründet. Er zeigt an, wie viele Neuinfektionen es innerhalb einer Woche bei 100.000 Einwohnern gibt. "Das ist ein eher politisch gesetzter Begriff", so Polke. "Da geht es darum: Bis zu wie viel Menschen sind die Behörden in der Lage, Infektionsketten nachzuvollziehen."
Die Infektionsrate würden zwar weiter ansteigen, schätzt Virologe Streeck, hält es aber für falsch, sich bei der Einschätzung der Pandemie auf die bloßen Zahlen zu fokussieren - sie zeigten nicht das an, "worauf es ankommt".
"Ampel" berücksichtigt örtliche Bedingungen
Er schlägt ein "Ampelsystem" vor, bei dem alle relevanten Werte - Infektions- und Testzahlen, schwere Erkrankungsverläufe, Intensivbettenbelegung - zusammengerechnet werden. Schwellenwerte, die strengere Schutzmaßnahmen auslösen, könnten für einzelne Regionen festgelegt werden, wobei berücksichtigt würde, wie dicht die medizinischen Versorgung dort jeweils ist. "In München", so Streeck, "können die Schwellenwerte anderswo liegen als in Friesland, in Göttingen anderswo als in Bonn".
Drosten: Nachverfolgbarkeit oft nicht mehr möglich
Unterschiedliche Schwellenwerte zu verwenden, das sieht der Berliner Virologe Christian Drosten kritisch - er fordert bundesweit einheitliche Schutzmaßnahmen: In mehr als der Hälfte der Infektionsfälle lasse sich derzeit nicht mehr nachvollziehen, wo die jeweilige Ansteckung stattgefunden hat, hatte er im NDR-Podcast zuletzt gesagt.
Zwar würden Meldestatistiken den Eindruck erzeugen, dass die meisten Infektionen bei Familienfeiern und in Haushalten geschähen, doch tatsächlich könne man das gar nicht sagen.
Drosten: "Cluster-Kontakttagebücher" können helfen
Das Virus sei momentan dabei, sich geografisch sehr schnell gleichmäßig zu verbreiten, lokale Maßnahmen hätten daher "immer weniger Durchgriff". Der Virologe rät vielmehr dazu, dass jeder eine Art "Cluster-Kontakttagebuch" führen solle.
Darin sollen Situationen vermerkt werden, die einem in Bezug auf die Ansteckungsgefahr "nicht ganz geheuer" waren. Etwa Treffen mit mehreren Menschen in geschlossenen Räumen ohne ausreichend Abstand - im Restaurant beispielsweise oder am Arbeitsplatz. Das könne auch den Gesundheitsämtern dabei helfen, im Fall einer Infektion die Quelle ausfindig zu machen.
R-Wert stellt Vergangenheit dar
Lange lag der Fokus in der öffentlichen Wahrnehmung auf der Reproduktionszahl, kurz R-Wert. Er liegt nach RKI-Schätzungen bei 1,18 (Vortag: 1,29). Das bedeutet, dass ein Infizierter im Mittel derzeit etwas mehr als einen weiteren Menschen ansteckt. Der R-Wert bildet jeweils das Infektionsgeschehen etwa eineinhalb Wochen zuvor ab.
"Bei diesem Wert handelt es sich um einen statistischen Mittelwert", gibt WDR-Wissenschaftsjournalistin Julia Polke zu bedenken. Und: "Er gibt Auskunft über die Vergangenheit." Das müsse man bei der Einordnung immer im Hinterkopf haben. Alle Werte zusammen seien wichtig, sagt der Kölner Virologe Rolf Kaiser. "Die Fülle dieser verschiedenen Werte erlaubt es uns, genau zu reagieren."