In den vergangenen Monaten hatte die Politik bei der Sieben-Tage-Inzidenz immer wieder den Zielwert von 50 ausgegeben. Erst wenn sich weniger als 50 Menschen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen mit dem Coronavirus infiziert haben, könnten die Gesundheitsämter Infektionsketten wieder nachverfolgen.
Noch Anfang Februar sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in Berlin: "Wir müssen jetzt spürbar unter 50 kommen, um es nicht dauerhaft über 50 schnellen zu lassen". Manche hofften daher auf Lockerungen ab einer Inzidenz von unter 50 und sehen sich nach den Beschlüssen von Bund und Ländern vom Mittwoch enttäuscht. Dabei hat uns Spahn nicht versprochen, dass bei einem Wert von 50 wieder alles öffnen darf.
"Die Verunsicherung in der Bevölkerung ist jetzt trotzdem total verständlich", sagt WDR-Wissenschaftsexpertin Julia Polke aus dem Quarks-Team, "aber der Wert 35 ist nichts Neues." Es stehe schon lange im Infektionsschutzgesetz, dass weitreichende Lockerungen erst ab diesem Wert in Kraft treten könnten. Dazu komme, dass Mutationen des Coronavirus - insbesondere die britische Variante - Infektionszahlen viel schneller in die Höhe schnellen lassen könnten.
Mutationen erschweren die Lage
Rolf Apweiler, einer der Virologen, die die Regierung beraten haben, hält die Verlängerung des Lockdowns für notwendig. Würde man den Lockdown jetzt schon aufheben, könne man damit rechnen, dass ansteckendere Virusvarianten innerhalb von einem Monat einen Inzidenzwert von über 400 verursachen würden.
Man habe Erfahrungen im Ausland gemacht, die es hier zu vermeiden gelte. "Selbst hier unter dem Lockdown haben Virusvarianten innerhalb von einer Woche um 70 Prozent zugenommen." Ein Beispiel: Jeder Fünfte positiv getestete Düsseldorfer ist mit der britischen Coronavirus-Variante infiziert.
Wann wird endlich wieder alles normal?
Die Antwort des Virologen ist simpel: "Gar nicht." Laut Apweiler müsse man sich generell davon verabschieden, dass man in den nächsten Monaten alles in den Griff bekommt. Es werde immer neue Virusvarianten geben. Man müsse dahin kommen, dass man das Coronavirus ähnlich handhaben könne wie die Grippe - durch ständig angepasste Impfstoffe.
"Wir brauchen ein langfristiges Konzept, um zu einer neuen Normalität zurückzukommen." Bisher habe die Regierung sich eher an kurzfristigen Lösungen orientiert, kritisiert der Virologe. Auch die flächendeckende Untersuchung auf Virusmutationen sei derzeit in Deutschland noch gering.
Untersuchungen auf Varianten in Düsseldorf und Köln
Zumindest in den NRW-Städten Düsseldorf und Köln wird jeder positive Corona-Fall auf eine Mutation überprüft. Dieses Verfahren sei sehr zeitaufwändig, so Julia Polke, Wissenschaftsexpertin aus dem Quarks-Team.
In Deutschland insgesamt würden nur rund fünf Prozent der positiven Coronatests auf Mutationen überprüft, während im Ausland teilweise drei Mal so viele untersucht würden: "Das macht aber insofern nichts, dass man so schon sehr gut hochrechnen kann, wie stark die Varianten bei uns im Moment vertreten sind." Allein die britische Mutation liege demnach schon bei fast sechs Prozent in Deutschland.
Ist unter 35 wieder alles wie vor diesem Lockdown?
Wie stark die Lockerungen unter einem Wert von 35 tatsächlich sein werden, prüft die NRW-Landesregierung noch, wie sie dem WDR am Donnerstag bestätigte. Dabei bleiben auch weiterhin alle Maßnahmen vor den Gerichten anfechtbar, so Jurist Philip Raillon. Entscheidend sei dabei immer, ob die Maßnahmen noch verhältnismäßig sind.
"Es ist absehbar, dass das OVG sich in den kommenden Tagen weiter mit diesen Fragen wird beschäftigen müssen. Knifflig könnte sein, dass zwar einerseits weiter strenge Regeln gelten sollen, andererseits aber einige Städte und Kommunen schon unter dem Inzidenzwert von 35 liegen." Der Wert 35 gilt als Frühwarnstufe. Doch auch darunter könnten Maßnahmen wie die Maskenpflicht oder die Abstandsregeln in nächster Zeit weiterhin erhalten bleiben.