Lindner fordert: Telefonische Krankschreibung abschaffen
Aktuelle Stunde . 13.09.2024. 28:33 Min.. Verfügbar bis 13.09.2026. WDR. Von Carsten Upadek.
Wird die telefonische Krankschreibung ausgenutzt?
Stand: 13.09.2024, 20:25 Uhr
Hausärzte loben die telefonische Krankschreibung. Finanzminister Lindner vermutet Ausnutzung und eine höhere Zahl an Krankmeldungen. Zahlen belegen das aber nicht.
Wer morgens mit Fieber und Husten aufwacht, dürfte froh sein über die aktuelle Regelung: Für eine Krankschreibung reicht seit Dezember 2023 in vielen Fällen ein Anruf beim Hausarzt, man muss sich dazu nicht mehr persönlich in die Praxis schleppen. Voraussetzung ist, dass man als Patient in der Praxis bekannt ist und keine schweren Krankheitssymptome hat.
Lindner fordert Abschaffung der Regelung
Diese Regelung fällt politisch in das Ressort des Gesundheitsministers. Dennoch hat sich Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) am Donnerstag mit einer Forderung dazu geäußert: Er plädiere für die Abschaffung der telefonischen Krankschreibung.
"Man wird für die Krankmeldung zukünftig wieder zum Arzt gehen müssen und das nicht einfach nur telefonisch erledigen können", sagte der Finanzminister und behauptete, es gebe "eine Korrelation zwischen dem jährlichen Krankenstand in Deutschland und der Einführung der Maßnahme, die als guter Bürokratieabbau gedacht war".
Zahlen widersprechen Lindners Aussage
Fakt ist, dass der Krankenstand in Deutschland laut dem Verband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zwar von 2021 bis 2023 stark angestiegen war, seitdem aber wieder abnimmt. Seit Beginn der Corona-Pandemie war die Zahl der Krankmeldungen bis 2023 auf ein Hoch von 6,1 Prozent gestiegen. Ab 2024 nahm die Zahl wieder leicht ab. Im ersten Halbjahr 2024 belief sich der durchschnittliche Krankenstand auf rund 5,8 Prozent.
Die Möglichkeit, sich am Telefon krankschreiben zu lassen, war während der Corona-Pandemie erstmals eingeführt worden. Gegen Ende der Pandemie wurde diese Option wieder zurückgenommen. Seit Dezember 2023 ist sie wieder möglich. Die Wiedereinführung der telefonischen Krankmeldung hat also bislang nicht zu einem erneuten Anstieg der Krankmeldungen geführt.
Zwar sagte die Techniker Krankenkasse (TK) dem WDR, dass die Zahl der Krankmeldungen in NRW und ausschließlich bei TK-Patienten bis Juli dieses Jahres angestiegen seien. Bundesweit aber seien die Zahlen des Gesamtverbands der gesetzlichen Krankenversicherung GKV gültig, so der TK NRW-Sprecher. Dass diese bislang einen sinkenden Trend zeigen, verwundere ihn nicht: NRW liege bundesweit meist etwa im mittleren Bereich bei den Krankmeldungen.
Hauptursachen für Krankmeldungen waren 2023 laut Krankenkassen Atemwegserkrankungen wie Erkältungen, Grippe und Corona. An zweiter Stelle standen orthopädische Leiden, dicht gefolgt von psychischen Erkrankungen.
Hausärzte sind froh über diese Lösung
Aus Sicht des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands (HAEV) ist die Regelung eine große Erleichterung: Sie entlaste nicht nur die Praxen, sondern sorge auch dafür, dass die betroffenen Patientinnen und Patienten sich nicht krank zur Praxis schleppen müssten, "obwohl eine Untersuchung vor Ort in dem konkreten Fall medizinisch gar nicht notwendig ist", sagte der HAEV-Bundesvorsitzende Markus Beier dem WDR. "Dadurch sind, gerade in der Infektsaison, unsere Wartezimmer weniger voll, zudem sinkt das Ansteckungsrisiko für unsere anderen Patientinnen und Patienten."
Typische Erkrankungen, bei denen eine telefonische Krankschreibung in Frage komme, seien beispielsweise leichte Atemwegsinfekte oder Magen-Darm-Erkrankungen, sagt Beier. Bei Unsicherheiten würden die Hausärzte ihre Patienten immer in die Praxis bitten oder einen Hausbesuch durchführen.
Einlesen der Karte nicht nötig
Krankschreibungen per Telefon dürfen nur für maximal fünf Tage ausgestellt werden - und nur dann, wenn keine schweren Symptome vorliegen. Außerdem müsse der Betroffene bereits Patient in der Praxis sein, sagt die Kassenärztliche Bundesvereinigung. Das Einlesen der Gesundheitskarte ist übrigens nicht erforderlich. War der Patient in dem Quartal noch nicht in der Praxis, übernehme die Praxis die Versichertendaten für die Abrechnung aus der Patientenakte.
Hat Lindner Recht mit seiner Behauptung?
Bundesfinanzminister Lindner
Mit seiner Unterstellung, Menschen würden die Möglichkeit, sich per Telefon von der Arbeit zu befreien, ausnutzen, nimmt Minister Lindner eine Position der Arbeitgeber auf: Das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln hatte in einer am Freitag veröffentlichen Studie ausgerechnet, dass die Arbeitgeber für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ihrer Beschäftigten im Jahr 2023 76,7 Milliarden Euro ausgegeben haben. Innerhalb der letzten 14 Jahre hätten sich die Kosten damit verdoppelt.
Die Zahlen für 2022 seien dabei vorläufig, die für 2023 geschätzt. Der Autor der Studie, Jochen Pimpertz, nennt die telefonische Krankschreibung "missbrauchsanfällig" und fordert zumindest eine Einschränkung.
Die Hausärzte sehen das anders: Die Einführung der telefonischen Krankschreibung sei medizinisch und "versorgungspolitisch eine absolut richtige und sinnvolle Entscheidung", sagt HAEV-Chef Beier. "Die Unterstellungen, dass sich die Menschen mithilfe der Telefon-AU einen schlanken Fuß machen, können wir aus unserer täglichen Arbeit nicht bestätigen."
Eine "Korrelation", wie Lindner sagt, zwischen telefonischer Krankmeldung und einem Anstieg der Zahlen ist insofern nicht belegbar, als dass die Krankmeldungen praktisch mit Einführung der Regelung zurückgingen.
20 Prozent wollen schonmal geschummelt haben
Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov im Juli ergab, dass 70 Prozent der Befragten, die schon einmal einen Krankenschein per Telefon beantragt haben, sich dabei wirklich krank fühlten. 20 Prozent sagten, sie hätten diese Möglichkeit schonmal ausgenutzt, ohne krank zu sein, sieben Prozent sogar mehrmals. Dabei nutzten offenbar mehr Männern die Möglichkeit, so krank zu "feiern" als Frauen.
Hausärzte: "Scheinlösung, wahllos aufgegriffen"
Die Arbeitgeberverbände hätten eine "Scheinlösung in die Welt gesetzt, die wahllos aufgegriffen wird – wie jetzt von Christian Lindner", kritisierte Beier. Sie gefährde eine Regelung, "die unsere Praxen wie auch unsere Patientinnen und Patienten gerade in den extremen Infektmonaten entlastet und eine der wenigen politischen Maßnahmen ist, die aktuell wirklich Bürokratie reduziert – was ja gerade auch im Sinne der FDP sein sollte", so Beier.
Viele Gründe für langjährigen Anstieg
Der Hausärzteverband verweist noch auf einen anderen Aspekt: Die gestiegene Zahl der Krankschreibungen sei "in großen Teilen" darauf zurückzuführen, dass seit Anfang 2022 sämtliche Krankschreibungen von der Praxis direkt an die Kassen übermittelt werden. Davor mussten die Patienten das Blatt selber postalisch an die Krankenkasse schicken. Viele Krankschreibungen hätten die Kassen früher nie erreicht.
Gründe für die bis 2023 gestiegenen Krankmeldungen gibt es viele, das räumt selbst das IW ein: Eine älter werdende Arbeitnehmerschaft, geschwächte Immunität als Folge der Corona-Isolation, die Zunahme psychischer Probleme durch die Krisen, erhöhter Arbeitsdruck und wirtschaftliche Sorgen.
Korrektur (13.09.2024, 20.22 Uhr): In der Darstellung der Ergebnisse der IW-Studie hatten wir fälschlicherweise geschrieben: "... dass sich die Kosten für Lohnfortzahlung im Krankheitsfall innerhalb der letzten 14 Jahre auf 76,7 Milliarden Euro verdoppelt hätten." Richtig ist: "... dass die Arbeitgeber für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ihrer Beschäftigten im Jahr 2023 76,7 Milliarden Euro ausgegeben haben. Innerhalb der letzten 14 Jahre hätten sich die Kosten damit verdoppelt." Wir haben die Stelle im Text korrigiert und bitten, den Fehler zu entschuldigen.
Unsere Quellen:
- Stellungnahme des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands
- Stellungnahme und Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft
- Bundesgesundheitsministerium
- Kassenärztliche Vereinigung
- Statistik Verband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
- Umfrage YouGov
- DPA