Stresstest und Atomkraftwerke: Was bedeutet Habecks Entscheidung?

Stand: 06.09.2022, 13:28 Uhr

Atomkraft auf Abruf: Als "Notreserve" will Wirtschaftsminister Robert Habeck zwei deutsche AKW bis April betriebsbereit halten. Was bedeutet das für unsere Stromversorgung?

Es ist ein Tabubruch - zumindest für einen grünen Politiker: Ende des Jahres sollte der deutsche Atom-Ausstieg eigentlich perfekt sein und die drei letzten verbliebenen AKW für immer vom Netz gehen. Nun musste am Montag ausgerechnet Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (B'90/Die Grünen) erklären, dass sich der endgültige Ausstieg aus der Kernenergie etwas verzögern wird.

Hintergrund ist ein "Stresstest", bei dem die deutsche Strom-Infrastruktur darauf untersucht wurde, ob sie im kommenden Winter auch bei ungünstigen Rahmenbedingungen jederzeit eine stabile Versorgung der Bevölkerung garantieren kann. Das Ergebnis: Probleme bei der Stromversorgung sind zwar unwahrscheinlich, aber auch nicht völlig ausgeschlossen.

Als zusätzliche "Notreserve" sollen daher die beiden süddeutschen AKW Isar II und Neckarwestheim weiter auf Abruf gehalten werden. Wenn es nötig wird, könnten sie innerhalb einiger Tage wieder hochgefahren werden und Strom produzieren.

Was sind die wirtschaftlichen und politischen Folgen dieser Entscheidung? Hat das Einfluss auf den Strompreis? Fragen und Antworten.

Warum ist die AKW-"Notreserve" überhaupt nötig?

Dass die Stromversorgung in Deutschland nicht mehr ganz so stabil ist wie in der Vergangenheit, hat mehrere Ursachen. Die Umstellung auf Erneuerbare Energien macht es nötig, ein dezentrales Versorgungsnetz mit neuen Leitungen zu schaffen. Dabei gab es in den vergangenen Jahren zwar Fortschritte. Abgeschlossen ist der extrem aufwändige Umbau der Infrastruktur allerdings noch lange nicht, was die Stabilität der Stromversorgung unter bestimmten Umständen gefährden kann.

Das europäische Stromnetz ist ein hochkomplexes System, das vor allem einem Zweck dient: Es muss immer genauso viel Strom verbraucht werden, wie erzeugt wird, und umgekehrt. Kleinere Schwankungen können ausgeglichen werden, größere können zum Zusammenbruch der Stromversorgung in ganzen Regionen führen, der möglicherweise erst nach Tagen behoben werden kann. So etwas nennt man einen "Blackout".

"Blackout" ist dabei nicht nur ein technischer Begriff, er hat auch eine politische Dimension: Vor allem rechte Gruppen schüren Angst vor einem "Blackout" und einem daraus resultierenden Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, um Stimmung gegen Erneuerbare Energien und den Staat zu machen.

Die Gefahr von großflächigen Stromausfällen betrifft aktuell vor allem die südlichen Bundesländer: Denn dort gibt es zwar viel Industrie, produziert wird der benötigte Strom aber vor allem im Norden der Bundesrepublik. Auch damit begründet Habeck seine Entscheidung, die beiden AKW in Baden-Württemberg und Bayern vorerst in Reserve zu halten.

Was wäre ein "schlimmster Fall", in dem der Atomstrom dringend gebraucht wird?

Die Bundesregierung geht zwar davon aus, dass es bei der Stromversorgung im Winter nicht zu Störungen kommt. Allerdings gilt das nur dann, wenn keine zusätzlichen Probleme auftreten. Falls sich zum Beispiel wider Erwarten die Pegelstände der deutschen Flüsse in den kommenden Wochen und Monaten nicht normalisieren, sondern es beim Niedrigwasser bleibt, könnte das die Versorgung der Kohlekraftwerke mit Brennstoff erschweren.

Ein Faktor sind auch die französischen Atomkraftwerke, die zurzeit wegen technischer Probleme nur eingeschränkt produzieren können. Deutschland muss daher aktuell viel Strom in das Nachbarland exportieren, vor allem über die südlichen Bundesländer.

Wenn viele solcher ungünstigen Faktoren auf einmal auftreten und das Risiko für größere Schwankungen im Stromnetz steigt, dann sollen die beiden AKW wieder hochgefahren werden und für Entlastung sorgen. Wichtig: Die Kernkraftwerke sollen nicht erst wieder ans Netz, wenn es bereits zum "Blackout" gekommen ist. Das wäre zu spät. Sie müssen schon dann in Betrieb genommen werden, wenn sich eine Gefahrenlage nur abzeichnet. Denn es dauert mehrere Tage, bis ein "ruhendes" AKW wieder Strom produzieren kann.

Bedeutet die Entscheidung das Comeback der Atomkraft?

Bisher deutet nichts darauf hin, dass es eine politische Mehrheit gegen den 2011 beschlossenen Atomausstieg gibt. Zwar werden aktuell Forderungen aus der FDP und der Union laut, zumindest die drei noch aktiven deutschen AKW länger laufen zu lassen, um für Entspannung auf dem Strommarkt zu sorgen. Allerdings würde auch eine solche Entscheidung neue Fragen aufwerfen, für die es noch keine befriedigende Antwort gibt. Zum Beispiel müssten die Kraftwerke dann mit neuen Brennelementen versorgt werden - was nicht von heute auf morgen funktioniert.

Eine neue Bundesregierung könnte allerdings wieder auf Atomstrom setzen, ähnlich wie das Nachbarland Frankreich. Denn auch in der Bevölkerung hat sich die Stimmung in dieser Frage offenbar gedreht. Im ARD-Deutschlandtrend erklärten Anfang August immerhin 41 Prozent der Befragten, sie fänden es sinnvoll, Atomenergie wieder langfristig zu nutzen.

Warum werden nur zwei und nicht alle drei verbliebenen AKW in Reserve gehalten?

Das Atomkraftwerk Emsland in Niedersachsen wird nach den Planungen des Bundeswirtschaftsministeriums wie geplant zum Ende des Jahres völlig stillgelegt. Emsland könnte zwar einen gewissen Beitrag zur Sicherung der Stromversorgung leisten, sagte Habeck am Montag. "Aber dieser Beitrag ist gemessen an den beiden süddeutschen Kraftwerken zu gering."

Aus Reihen der FDP gibt es scharfe Kritik an der Entscheidung: "Der einzige Grund, warum das Kernkraftwerk in Lingen im Emsland nicht auch in den Reservebetrieb geht, ist der linke Landesverband der Grünen in Niedersachsen", schreibt FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle auf Twitter. Am 9. Oktober wird in Niedersachsen ein neuer Landtag gewählt.

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Der Vorwurf, das Aus für das AKW Emsland sei wahltaktischen Überlegungen geschuldet, wird aber offenbar nicht in der ganzen Partei geteilt. Der Vorsitzende des Übertragungsnetzbetreibers 50 Hertz, Stefan Kapferer (FDP), erklärte: "Wir haben vorgeschlagen, alle drei Atomkraftwerke weiterlaufen zu lassen, aber der Minister hat richtig dargestellt, dass die Funktion der beiden süddeutschen Kraftwerke eine deutlich andere ist als die des Kraftwerks in Lingen." Auch die anderen Netzbetreiber sähen das so.

Hilft die Entscheidung gegen hohe Strompreise?

Wohl eher nicht. Es gilt nach den Prognosen des aktuellen Stresstests eher als unwahrscheinlich, dass die beiden AKW bis April überhaupt noch einmal Strom erzeugen werden. Einen Einfluss auf die Strompreise gäbe es wohl nur dann, wenn die Laufzeiten der verbliebenen AKW tatsächlich verlängert würden. Allerdings lag der Anteil der deutschen Kernkraftwerke an der Stromversorgung zuletzt nur noch bei etwa sechs Prozent - die Auswirkungen auf den Strompreis dürften also überschaubar sein.

Um die Produktion deutlich zu steigern, müssten wahrscheinlich bereits stillgelegte Kraftwerke wieder in Betrieb genommen werden. Selbst die Betreiber äußern Zweifel, ob sich der Aufwand und die Kosten dafür wirklich lohnen.

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