Ein Kernkraftwerk, davor ein Sonnenblumenfeld

Längere Laufzeiten für Atomkraftwerke? Das spricht dafür - das dagegen

Stand: 27.07.2022, 15:33 Uhr

Bringt eine Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke wirklich mehr Energiesicherheit? Aus den Reihen der Politik werden die Gegenstimmen zumindest leiser. Doch wie groß ist der Beitrag der Atomkraft am Energiemix überhaupt? Und welche Gefahren lauern?

Von Oliver Scheel

Kann uns die Kernenergie helfen, die Gas-Krise zu überwinden? Darum dreht sich die Diskussion um die Laufzeitverlängerung bei den verbliebenen drei deutschen Atomkraftwerken. Während FDP und CDU für eine Verlängerung sind, sträuben sich die Grünen und die SPD. Allerdings wird die Zahl der Gegner etwas kleiner. Es komme auf die Bedingungen an, hieß es zuletzt immer häufiger.

Wo stehen wir heute? Was erscheint realistisch?

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck (Grüne) schlossen zuletzt eine Verlängerung nicht mehr aus. Beim sogenannten Stresstest könne sich ein "Sonderszenario" ergeben, sagte Habeck bei RTL. Scholz blies in ein ähnliches Horn: Er wolle die Ergebnisse eines zweiten Stresstests zur Sicherheit der Stromversorgung abwarten. Die FDP forderte dazu einen Atomgipfel im Kanzleramt.

TÜV-Verband hält Wiederinbetriebnahme für machbar

Mittlerweile erscheint nicht nur die Verlängerung, sondern auch eine Wiederinbetriebnahme von drei stillgelegten AKW machbar: Der TÜV-Verband zumindest hält dies sicherheitstechnisch für machbar und unbedenklich. "Diese Anlagen zählen zu den sichersten und technisch besten Kraftwerken, die es weltweit gibt", sagte Joachim Bühler, geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des TÜV-Verbands, der "Bild" am Mittwoch. Sie seien "in einem exzellenten Zustand." 

Für die Wiederinbetriebnahme der drei bereits abgeschalteten AKW sei der Aufwand zwar etwas größer. Generell handele es sich hierbei "vor allem um eine Frage des politischen Willens", so Bühler.

Mehr Kernenergie scheint möglich - aber zu welchem Preis?

Viel wird derzeit diskutiert über den Sinn einer Laufzeitverlängerung. Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erteilte der Atomkraft eine Absage:

Wir haben kein Stromproblem, sondern ein Wärmeproblem Energieökonomin Claudia Kemfert

Zwar können Atomkraftwerke helfen, Gas zu sparen, weil dann weniger Gas zur Stromerzeugung genutzt werden könnte. Doch Gaskraftwerke erzeugen auch Wärme für die Fernwärmenetze. Und diese Kraft-Wärme-Kopplung könnten AKW nicht ersetzen, so Timm Kehler vom Branchenverband "Zukunft Gas".

Was ist mit der Abhängigkeit von Russland?

Aber befördert sich Deutschland mit dem Rückgriff auf Kernenergie nicht in eine neue Abhängigkeit zu Russland? Schließlich dominiert das Staatsunternehmen Rosatom gemeinsam mit Kasachstan mit 38 Prozent den Uran-Weltmarkt, so der BUND.

"Uran ist auch in politisch stabilen Ländern verfügbar", entgegnete Ralf Güldner vom Branchenverband Kerntechnik dem WDR. Und innerhalb von 15 bis 18 Monaten seien neue Brennstäbe zu besorgen. "Mit den frischen Brennstäben könnten wir in den Winter 2023/24 gehen." Bis in den Frühling und damit ans Ende der Heizperiode könne man mit den alten Brennstäben durch einen Streckbetrieb kommen.

Brennstäbe im Atomkraftwerk Philippsburg

Brennstäbe im Atomkraftwerk Philippsburg

Der energiepolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Michael Kruse, sprach sich im "Tagesspiegel" für eine Laufzeitverlängerung bis Frühjahr 2024 aus, um die zwei nächsten kritischen Winter zu überbrücken. Güldner aber blickt dann schon wesentlich weiter in Zukunft: "Die frischen Brennstäbe laufen drei bis vier Jahre und man sollte die Brennelemente ausnutzen", forderte er im WDR. Damit würde die Laufzeitverlängerung aber schnell bis 2027 oder 2028 gehen.

Kernenergie kann einen Beitrag leisten - einen kleinen

"Die krisenbedingte Verlängerung der Atomkraftwerke scheint fürs Klima und die Energiesicherheit die bessere Lösung zu sein. Anders als bei neuen Atomkraftwerken wäre das kein Milliardengrab, sondern es geht nur um ein paar Brennelemente. Und ob unser Atommüll von heute aus gesehen 10.000 Jahre strahlt oder 10.005 Jahre, spielt dann mit Blick aufs Ganze auch keine Rolle", fasste Stefan Büttner vom Institute for Energy Efficiency in Production der Universität Stuttgart die aktuelle Situation zusammen.

Derzeit produzieren die drei verbliebenen AKW aber nur sechs Prozent des Stroms. "Wir können einen Beitrag leisten", hielt Güldner dem entgegen und verwies auf den Satz von Habeck: "Jede Kilowattstunde zählt." Dennoch ist der Beitrag überschaubar. Das stellte auch das Wirtschaftsministerium fest.

Es braucht eine Änderung des Atomgesetzes

Außerdem benötigt es eine Änderung der Gesetzeslage: "Ein Betrieb könnte nur aufgrund einer gesetzlichen Aufhebung des Erlöschens und einer gesetzlichen Laufzeitverlängerung erfolgen. Diese Entscheidungen des Gesetzgebers kämen einer Neugenehmigung gleich", schreibt das Umweltministerium auf seiner Homepage.

Und schließlich sind die Betreiber bisher auch nicht vom Weiterbetrieb überzeugt. Eon-Chef Leonard Birnbaum sagte, die Lage würde sich nicht wirklich verändern. Atomkraft habe in Deutschland keine Zukunft.