"Lindemann hat das Unternehmen Rammstein in den Abgrund gezogen"
Stand: 07.06.2023, 16:08 Uhr
Bands, die Sex mit ihren Groupies haben, gab es schon immer. Der Fall Rammstein zeigt aber eine andere, möglicherweise strafrechtlich relevante Dimension, sagt Musikjournalistin Jenni Zylka im Interview. Sie erwartet eine Reaktion der Band.
Die Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann wiegen schwer: Junge Frauen sollen gefügig gemacht und ihm zum Sex zugeführt worden sein. Musikjournalistin Jenni Zylka, die unter anderem für das Magazin Rolling Stone schreibt, kann sich an keinen vergleichbaren Fall erinnern. Die Band Rammstein sieht sie wegen der Vorwürfe am Ende - und erwartet von ihr beim ersten Deutschland-Konzert am Mittwochabend in München eine Reaktion.
WDR: Gab es das nicht schon immer in der Musikwelt, dass Groupies sich ihren Idolen zur Verfügung stellen und auf Aftershowpartys Sex mit Künstlern haben?
Jenni Zylka: Klar, das gibt es schon ewig. Darüber gibt es Bücher, die von den Sechzigern erzählen: Jenny Fabian mit "Groupie" oder Pamela des Barres mit "I’m with the band". Die Frauen haben das allerdings teilweise auch als Selbstermächtigung empfunden. Sie haben es so gesehen, dass sie mithilfe von Rockmusik ausgebrochen sind und mit Musikern Sex gehabt haben, mit denen sie Sex haben wollten. In so einer systematischen Art und Weise, wie es bei Rammstein passiert ist, wenn die Vorwürfe zutreffen, ist es aber – glaube ich – selten.
Ich bin ziemlich sicher, dass es das in der deutschen Rockmusik so nicht bei anderen Bands gibt. Die Toten Hosen oder die Ärzte zum Beispiel gehen sehr achtsam mit ihren Fans um. In Deutschland gibt es, soweit ich weiß, keine weiteren Bands mit so einem System, wie es die Frauen im Fall von Rammstein beschreiben.
Es geht ja beim Sex prinzipiell immer um Konsens. Was es bei Rammstein strafrechtlich relevant machen würde, wäre, wenn Frauen unter Drogen gesetzt wurden. Dann kann es keinen Konsens gegeben haben. Das ist wirklich ein ganz schweres Verbrechen. Das Groupietum an sich ist also nicht das Problem - das Problem ist da, wo es strafrechtlich relevant wird.
WDR: Erkennen Sie also bei Rammstein ein strukturelles System des Machtmissbrauchs?
Zylka: Wenn die Vorwürfe stimmen, ist das nicht nur Machtmissbrauch, dann ist das ein schweres Verbrechen. Da wird im Prinzip das Fantum ausgenutzt und die Frauen werden körperlich geschädigt. Das ist sexueller Missbrauch.
WDR: Wie erklären Sie sich, dass sich im Fall von Rammstein jetzt erst Frauen nach vorne wagen und von ihren Erlebnissen berichten?
Zylka: Es geht ja meistens um sehr junge Frauen. Sie wissen vielleicht nicht genau, ob es in Ordnung ist, was ihnen widerfahren ist. Und das hat was mit Erfahrungswerten zu tun. Es ist für uns als Gesellschaft schockierend und sollte uns zu denken geben: So gut war es noch nie für Frauen, und dennoch schaffen es junge, erwachsene Frauen nicht, zu formulieren, was sie gut oder schlecht finden, sich selbst zu ermächtigen. Sie haben nicht gelernt, gefährliche Situationen zu erkennen und bei Übergriffigkeiten 'Nein' zu sagen. Dagegen können wir nur angehen, indem wir die Diskussion noch größer machen.
WDR: Das heißt, obwohl die Berichterstattung zu MeToo schon ein paar Jahre her ist, muss weiterhin für die Grenzen im Umgang mit Frauen sensibilisiert werden?
Zylka: Ich bin ganz sicher, dass das so ist. Unsere Gesellschaft ist ja noch nicht gleichberechtigt. Das sehen wir ja auch in ganz vielen anderen Bereichen – nicht nur in der Musikbranche.
WDR: Ist die Band Rammstein mit diesen Vorwürfen der Frauen als Band am Ende?
Zylka: Ich glaube, dass Till Lindemann damit – wenn es sich als wahr herausstellt – tatsächlich das ganze Wirtschaftsunternehmen Rammstein in den Abgrund gezogen hat. Rammstein ist ja sehr groß, mit sehr vielen Zweigen, sehr vielen Menschen, die da arbeiten, und mit internationaler Bekanntheit.
Allein dieses Pornovideo zu produzieren und zugänglich zu machen, strotzt ja quasi vor Ignoranz, ich verstehe es einfach nicht. Eigentlich müssten sich die Bandkollegen distanzieren. Es reicht auch nicht, die Frau zu feuern, die die Frauen für Till Lindemann rekrutiert haben soll.
Das Unternehmen ist meiner Ansicht nach unwiderruflich kaputt, das kann man nicht mehr reparieren.
WDR: Heute Abend ist das erste Konzert in München. Was erwarten Sie: Wird es auf der Bühne oder im Publikum eine Reaktion auf die Berichterstattung geben?
Zylka: Wenn Fans sagen, ich halte zu meiner Band, dann werden die natürlich auch zum Konzert gehen. Es gibt auch so etwas wie eine Fantreue.
Von der Band erwarte ich tatsächlich, dass sie irgendetwas zu den Vorwürfen sagt. Ich möchte mir nicht vorstellen, dass sie das ignoriert.
Das Interview führte Christina Höwelhans.
Nachtrag: Beim Konzert am Mittwochabend in München hat sich die Band nicht zu den Vorwürfen geäußert. Rund 60 Menschen protestierten aufgrund der Vorwürfe vor dem Konzert gegen den Auftritt der Band. Ansonsten war die Stimmung unter den Besuchern weitestgehend ausgelassen. Das Interview wurde vorher geführt.
Über dieses Thema haben wir im WDR am 07.06.2023 auch im Fernsehen berichtet: Aktuelle Stunde, 18.45 Uhr.