Pflege in Not: Das bedeutet der Fachkräftemangel für Pflegende und Patienten

Stand: 06.12.2022, 14:05 Uhr

Wie groß ist der Personalmangel in der Pflege tatsächlich? Was wirkt sich das direkt in Kliniken und Heimen aus? Die Folgen des Pflegenotstands schonungslos erklärt.

Von Jörn Seidel

Während Krankenpfleger Adamah auf der Infektiologie der Uniklinik Essen seine Patientinnen und Patienten versorgt und betreut, legt er nebenbei unzählige Meter zurück, telefoniert, desinfiziert und wechselt ständig blaue Handschuhe. Der 27-Jährige mag seinen Job. Für viele andere hingegen ist der Pflegeberuf in Kliniken, Pflegeheimen und ambulanten Diensten unattraktiv.

Während Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) Pläne für eine Krankenhaus-Reform vorgestellt hat, klären wir: Warum gilt die Pflege als unattraktiv? Wie groß ist der Fachkräftemangel wirklich? Und wie lässt er sich lösen? Wir klären die drängendsten Fragen – und geben Antworten:

Wie groß ist der Personalmangel in der Pflege tatsächlich?

Um 17 Patientinnen und Patienten kümmern sich Pfleger Adamah und seine Kollegin Yvonne an jenem Tag, als der WDR ihn eine Schicht lang mit einem Filmteam begleitet. Das sind pro Pflegekraft 8,5 Fälle. Solange nichts schiefgeht, gehe das gerade so, sagt Adamah. In seiner Ausbildung in einer anderen Klinik war das anders: Da seien drei Pflegende für 42 Patientinnen und Patienten zuständig gewesen.

"Man schafft es irgendwie, aber ist selber sehr gestresst. Da passieren schon viele Abstriche, glaube ich. Bei vielen Stationen." Krankenpfleger Adamah

In unserer Reportage können Sie eine Schicht mit Pfleger Adamah hautnah miterleben - zwischen Patienten-Betreuung, Tabletts abräumen und Bettpfannen säubern, stößt er auf menschliche Ausnahmezustände. Den Film gibt es oben in diesem Beitrag oder auch hier:

Seit 2019 gilt für bestimmte pflegeintensive Klinik-Stationen eine Untergrenze fürs Personal. Trotz dieser Neuerung dürfte sich an der Personalsituation in Deutschland im internationalen Vergleich noch nicht viel geändert haben. Laut einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung von 2018 kommen hierzulande 13 Klinikpatienten auf eine Pflegefachkraft - in den Niederlanden sind es nur etwa halb so viele.

Wie viele Pflegekräfte fehlen wirklich in Kliniken und Altenheimen? In zuverlässige Zahlen fassen lässt sich der Personalmangel kaum. Die Gewerkschaft Verdi, die auch für die Rechte von Pflegepersonal eintritt, kam vor zwei Jahren auf 80.000 fehlende Pflegekräfte allein in den Krankenhäusern. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung kam vor vier Jahren auf 100.000 fehlende Pflegestellen in den Kliniken.

Der Gesundheitsökonom Heinz Rothgang von der Universität Bremen ermittelte vor zwei Jahren für die Pflegeheime in einer umfangreichen Studie 120.000 fehlende Vollzeitkräfte. Die Zahl entspreche etwa 200.000 Köpfen, da viele Pflegerinnen und Pfleger in Teilzeit beschäftigt seien, so Rothgang.

Genaue Zahlen zum Personalmangel in der Pflege bietet der Arbeitsmarkt - natürlich aber nur zu jenen Pflegestellen, die ausgeschrieben sind. Eine Auswertung der Bundesagentur für Arbeit zeigt: Es besteht vor allem ein Fachkräftemangel. Im Jahresdurchschnitt 2021 kamen auf 27.000 Jobangebote für Fachkräfte nur 9.000 qualifizierte Arbeitslose.

In Zukunft wird sich die Personalsituation der Kranken- und Altenpflege wohl noch verschärfen. Da sind sich die Expertinnen und Experten einig. Denn mit der alternden Gesellschaft steigt auch die Zahl der Pflegebedürftigen. Das lässt sich schon mit Blick auf die vergangenen Jahre beobachten, wie das Statistische Bundesamt zeigt.

Wie viele Pflegekräfte werden also in Zukunft fehlen? Zum Teil ist sogar von 500.000 fehlenden Pflegerinnen und Pflegern im Jahr 2030 die Rede. Die Datenbasis solcher Prognosen lässt aber Zweifel aufkommen. Denn wie sich die Situation entwickelt, hängt von vielen Faktoren ab – zum Beispiel davon, wie attraktiv der Beruf in Zukunft sein wird. Bislang schreckt er viele eher ab.

Warum wird der Pflegeberuf oft als unattraktiv wahrgenommen?

Nicht nur wegen der Belastung ist der Pflegeberuf für viele unattraktiv, sondern auch wegen der relativ geringen Verdienstmöglichkeiten. Er selbst fühle sich fair bezahlt, sagt Adamah. Aber er arbeite auch in Vollzeit, sei alleinstehend und könne alle Schichten machen.

Krankenpfleger Adamah steht draußen an der Straße in dunkler Jacke und schaut in die Kamera.

Krankenpfleger Adamah

Mit Familie "sieht das schon ganz anders aus". Um trotzdem auf ein gutes Gehalt zu kommen, müsse man familiär so manche Abstriche machen, beobachtet er bei Kolleginnen und Kollegen.

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In der Altenpflege verdient man noch etwas weniger als im Krankenhaus. In der ambulanten Pflege ist es nochmals weniger - vor allem als Hilfskraft, wie Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit zeigen.

Bei vielen Altenpflegerinnen und Altenpflegern, die bislang nicht nach einem Tarifvertrag bezahlt wurden, sind die Löhne vor Kurzem deutlich gestiegen. Grund dafür ist die im September in Kraft getretene Tariftreueregelung, die noch auf die schwarz-rote Vorgänger-Regierung zurückgeht. Das könnte den Beruf der Altenpflegekraft attraktiver machen.

Unattraktiv ist der Pflegeberuf für viele aber auch deshalb, weil er belastender als viele andere Berufe ist. Das geht aus dem Pflegereport 2020 der Barmer-Krankenkasse hervor. Hinzu kommt: Auch die empfundene Belastung ist unter Pflegekräften größer als in vielen anderen Berufen. Das gilt sowohl für Kranken- als auch Altenpflegekräfte.

Zu schaffen macht Pflegekräften laut dem Pflegereport unter anderem Folgendes:

  • häufiges Arbeiten im Stehen
  • häufiges Heben und Tragen von schweren Lasten
  • häufiges Arbeiten in Zwangshaltung (in gebückter, hockender, kniender oder liegender Stellung)
  • häufiger Termin- und Leistungsdruck
  • zeitliche Vorschriften für bestimmte Tätigkeiten
  • häufiges Arbeiten bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit

Die Folge: Pflegerinnen und Pfleger sind im Vergleich zu vielen anderen Berufstätigen überdurchschnittlich oft krank und frühverrentet. Die personellen Ausfälle führen wiederum zu weiterer Arbeitsbelastung für die übrigen Pflegekräfte – ein "Teufelskreis", wie es im Pflegereport heißt.

Grafik: "Teufelskreis" des Pflegenotstands bei zu geringer Personalausstattung: Eine (zu) hohe Belastung führt zu erhöhter Beanspruchung, die zu erhöhtem Krankheitsrisiko und dann zu vermehrten Fehlzeiten und Erwerbsminderungsrenten führt und so weiter.

Ein Fazit des Pflegereports: Wären die Arbeitsbedingungen besser, könnten viele Tausende Arbeitskräfte mehr im Einsatz sein. Mehr dazu und zur Entlastung durch die geplante Krankenhaus-Reform gibt es in diesem Beitrag weiter unten bei den Lösungsvorschlägen.

Wie bekommen Klinikpatienten, Heimbewohner und andere Pflegebedürftige den Personalmangel zu spüren?

Wenn nur wenig Personal da ist, aber viele Patientinnen und Patienten, müsse alles "schnell, schnell" gehen, sagt Adamah und erinnert sich an seine Ausbildung.

"Man hat da nicht so viel Zeit, das so sorgfältig zu machen, wie man es sonst macht. Weil man weiß: Okay, draußen wartet noch ein Berg an Arbeit." Krankenpfleger Adamah

Wenn es Pflegekräften an Zeit fehlt, dann hat das für Patienten und Pflegebedürftige spürbare Folgen. Oft kommt dann zuallererst das Zwischenmenschliche zu kurz. Auch empfohlene, aber verzichtbare Pflegemaßnahmen fallen weg, obwohl sie Heilungsprozesse beschleunigen könnten. Außerdem kann die medizinische Versorgung leiden. Und mancher Bettlägeriger muss dann länger in seinen Ausscheidungen liegen bleiben, bis ihm endlich die Windel gewechselt wird.

Darüber hinaus steigt laut einer Studie der Uniklinik Ulm das Risiko, dass eine Pflegekraft gegen Patienten und Pflegebedürftige bewusst Gewalt ausübt - auch solche Fälle gibt es. Das kann sich zum Beispiel in grober Behandlung bei Pflegemaßnahmen äußern, in Zwangsmaßnahmen wie Fixieren und Einschließen oder auch durch Demütigung und Einschüchterung.

Die Zahl der Pflegenden hat offenbar auch einen Einfluss auf die Zahl der Todesfälle. Das hat eine Studie der University of Pennsylvania von 2014 ergeben. Ausgewertet wurden dafür Daten von mehr als 420.000 Patienten in neun europäischen Ländern, die sich chirurgischen Eingriffen unterzogen hatten.

"Mit jedem zusätzlichen Patienten, den eine Schwester versorgen muss, nimmt die Wahrscheinlichkeit, dass ein chirurgischer Patient binnen 30 Tagen nach der Aufnahme stirbt, um sieben Prozent zu", zitiert das Deutsche Ärzteblatt die Studie.

Wie lässt sich der Fachkräftemangel in der Pflege lösen?

Krankenpfleger Adamah steht auf dem Flur seiner Station.

Krankenpfleger Adamah auf dem Flur seiner Station

In seinem Beruf erlebt Adamah auch immer wieder schöne Momente - so wie in dieser Spätschicht, als er sich mit einem Patienten über dessen Entlassung freuen kann. Nach vielen Tagen auf der Station kann der alte Mann nun endlich zurück nach Hause, so wie er es immer wollte. "Das ist dann immer schön, wenn es dann doch klappt", sagt Adamah und verabschiedet den Mann mit aufmunternden Worten:

"Alles Gute! Besuchen Sie uns nicht so schnell wieder!"

Es gibt vieles, was den Pflegeberuf attraktiv macht – trotzdem bleiben ihm zu viele fern. An Ideen und Vorschlägen, wie sich das ändern lässt, mangelt es nicht. Einige fanden sich in den Wahlprogrammen der Parteien zur Bundestagswahl wieder. Andere wurden schon realisiert oder befinden sich gerade in der Umsetzung. Es braucht mehr Pflegekräfte, insbesondere Fachkräfte, da sind sich alle einig. Aber wie? Eine kleine Auswahl, was sich derzeit tut:

Manche Lösungsideen wurden bereits umgesetzt wie die genannten Personaluntergrenzen auf pflegeintensiven Klinik-Stationen. Oder die erwähnte Tariftreueregelung in Altenheimen: Dadurch sind die Gehälter vieler bislang schlecht bezahlter Pflegekräfte zum September stark gestiegen.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will eine Krankenhaus-Reform in zwei Schritten - über eine erste "kleine Reform" hat der Bundestag bereits entscheiden. Unter anderem sollen, wann immer es medizinisch vertretbar ist, alle dafür geeigneten Behandlungen ambulant durchgeführt werden. Dadurch sollen in den Kliniken Nachtdienste wegfallen und Pflegekräfte entlastet werden.

Jetzt hat Lauterbach auch den nächsten "großen" Reform-Schritt vorstellen, mit der ihm zufolge der "Beginn einer Revolution" bei der Klinikvergütung eingeläutet werden soll.

Im Frühjahr und Sommer ging das Pflegepersonal an den NRW-Unikliniken immer wieder in den Streik und auf die Straße – nicht etwa für mehr Lohn, sondern für bessere Arbeitsbedingungen. Mit Erfolg: Die Unikliniken und die Gewerkschaft Verdi verständigten sich auf Eckpunkte für einen Tarifvertrag. Auf diesen warten die Pflegerinnen und Pfleger allerdings noch heute.

Einen weiteren kleinen Hoffnungsschimmer für die Pflege bietet eine Studie aus Gelsenkirchen, Bremen und dem Saarland vom Mai dieses Jahres. Sollten sich die Arbeitsbedingungen in Kliniken, Heimen und ambulanten Diensten tatsächlich deutlich verbessern, könnte das den Personalmangel demnach erheblich verringern. Dann würden nämlich mindestens 300.000 Vollzeit-Pflegekräfte in Betracht ziehen, in ihren Beruf zurückzukehren oder ihre Arbeitszeit aufzustocken.

Warum Pfleger Adamah sich trotz aller Missstände bewusst für den Pflegeberuf entschieden hat – und es jeden Tag aufs Neue tut –, erleben Sie nah dran in unserer Reportage:

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