Mehr als 600 Opfer - Historiker untersuchen sexualisierte Gewalt im Bistum Münster

Stand: 14.06.2022, 07:00 Uhr

Nach mehr als zwei Jahren Forschungsarbeit hat am Montagvormittag ein Team aus fünf Historikern der Uni Münster ihre Untersuchung zu sexuellem Missbrauch im Bistum Münster vorgestellt. Sie sprechen von über 600 Opfern. Dabei geht es um die Zeit zwischen 1945 und 2020.

Über 600 Menschen sollen nach der Studie im Bistum Münster als Minderjährige sexualisierte Gewalt durch Kleriker erlitten haben. Die Forscher gehen zusätzlich von einer hohen Dunkelziffer aus. Demnach könnte es vielleicht sogar über 1.000 weitere Betroffene geben. Drei Viertel der Opfer seien Jungen gewesen. Viele waren Messdiener oder hatten kirchliche Ferienlager oder Jugendgruppen besucht.

Die meisten Fälle der sexualisierten Gewalt seien keine Einzeltaten gewesen. Die Forscher gehen von bis zu 6.000 Missbrauchstaten seit den 50er Jahren aus. Dabei reichen die Vorwürfe von anzüglichen Kommentaren bis hin zu schwerem sexuellen Missbrauch - und das über viele Jahre. In kaum einem Dekanat des Bistums Münster sei es seit 1945 nicht zu Fällen der sexualisierten Gewalt gekommen.

Forscher belasten auch Bischöfe

Nach Erkenntnissen der Historiker können über 200 Kleriker im Bistum Münster der sexualisierten Gewalt beschuldigt werden. Ein Großteil von ihnen habe keine strafrechtlichen Konsequenzen für ihre Handlungen erlebt. Oftmals habe das Bistum die Beschuldigten lediglich in eine andere Pfarrei versetzt. Heute leben noch etwa 50 der beschuldigten Priester.

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Die Arbeit der Forscher knüpft an eine 2018 vorgestellte Missbrauchsstudie der deutschen Bischöfe an. Die Forschergruppe um die Historiker Thomas Großbölting und Klaus Große Kracht hat dazu Akten ausgewertet und mit Betroffenen gesprochen. Nach der Pressekonferenz im Schloss der Uni wird der Bericht an Münsters Bischof Felix Genn gehen. Er will sich am Freitag dazu erstmals öffentlich äußern.

Versagen auf Seiten der Bistumsleitung

Den Forschern zufolge sei der Missbrauch durch Priester schon seit den 1950er-Jahren im Bistum Münster bekannt gewesen. Die meisten Betroffenen haben sich aber erst nach 2010 bei der Diözese gemeldet. Viele Opfer hatten befürchtet, dass ihnen nicht geglaubt wird. Trotz der Verzögerungen bei den Meldungen der Taten, habe das Bistum von über 100 Fällen von sexualisierter Gewalt gewusst.

Bischöfe sollen vorgeschriebene kirchenrechtliche Strafverfahren ignoriert haben. Erst nach 2007 sei der erste Fall ordnungsgemäß behandelt worden. Dem Leid der Betroffenen sei das Bistum in vielen Fällen nicht gerecht geworden. Viele Betroffene hätten den Forschern wiederholt signalisiert, dass es auch jetzt noch "Kommunikationsschwierigkeiten bis hin zu tiefen Verletzungen und Retraumatisierungen" durch das Verhalten der Kirchenvertreter und des Bistums gegeben habe, so Historiker Klaus Große Kracht.

Bishof Genn will Konsequenzen ziehen

Auch den aktuellen Bischof in Münster, Felix Genn, belasten die Forscher in ihrer Studie. Er habe in seinen ersten Amtsjahren dazu tendiert, Missbrauchstätern, die Reue für ihre Taten zeigten, "nicht mit der kirchenrechtlich gebotenen Strenge zu begegnen", sagt Historiker Klaus Große Kracht. In zwei Fällen habe er Vorfälle nicht an Rom gemeldet.

Seit einigen Jahren befolge Genn konsequent die kirchlichen Regeln. Das Bistum bemühe sich ernsthaft um die Aufklärung der Missbrauchsfälle. Der Bischof hat angekündigt Konsequenzen aus den Ergebnissen der Studie zu ziehen. Der veränderte Umgang der Kirche mit Missbrauchstaten liege nach Erkenntnissen der Forscher besonders am öffentlichen Druck. Lernprozesse seien "nicht intrinsisch, sondern von außen erzwungen", so Großbölting.

Forscher arbeiteten unabhängig

Vor der Veröffentlichung der Studie wurde das Bistum über deren Inhalte nicht informiert. Laut Studienleiter Großbölting habe es allerdings bei der Geheimhaltung der Ergebnisse eine Panne gegeben, weil eine in Buchform gedruckte Ausgabe der Studie zu früh ausgeliefert worden war. Diese betroffenen Personen seien aber zur Geheimhaltung verpflichtet worden, so Studienleiter Thomas Großbölting.

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Mit der Beauftragung der Universität hat das Bistum Münster einen anderen Weg gewählt als München oder Köln. Hier wurden die Missbrauchsgutachten an Rechtsanwaltskanzleien vergeben. Den Historikern aus Münster hat das Bistum absolute Unabhängigkeit garantiert. Im größten deutschen Bistum Köln hatte Kardinal Woelki ein Missbrauchsgutachten zeitweise unter Verschluss gehalten.

Bistum hat Hotline eingerichtet

Das Bistum Münster hat die Studie in Auftrag gegeben und mit rund 1,3 Millionen Euro finanziert. Für die kommende Woche wurde eine Hotline (0251/495 62 52) für Betroffene eingerichtet. Hier können sich auch Menschen melden, die Hinweise auf Missbrauchstaten geben wollen.