Holocaust-Überlebende Margot Friedländer zur Reichspogromnacht
WDR aktuell. 09.11.2023. Verfügbar bis 09.11.2025. WDR. Von Helmut Schaer.
Holocaust-Überlebende Friedländer: "So hat es damals auch angefangen"
Stand: 09.11.2023, 06:00 Uhr
Margot Friedländer hat die Pogromnacht 1938 in Berlin miterlebt. Im WDR-Interview erzählt sie, was sie damals erlebt hat - und wie sie den heute wieder wachsenden Antisemitismus wahrnimmt.
Margot Friedländer wurde 1921 in Berlin in eine jüdische Familie geboren. Ihr jüngerer Bruder wurde zusammen mit ihrer Mutter im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. Friedländer versteckte sich lange an verschiedenen Orten, bis sie 1944 gefasst und ins Konzentrationslager Theresienstadt transportiert wurde. Mit ihrem späteren Ehemann Adolf Friedländer überlebte sie das Lager und wanderte 1946 nach New York aus. Mit 88 Jahren kehrte sie nach Jahrzehnten in den USA nach Berlin zurück. Hier tritt sie etwa an Schulen auf und erzählt ihre Geschichte als eine der letzten Zeitzeuginnen.
Hier sind Auszüge eines Interviews, das am Vorabend des 85. Jahrestages der Reichspogromnacht mit Margot Friedländer geführt wurde.
WDR: Wie erinnern Sie sich an die Pogromnacht 1938?
Margot Friedländer: Ich bin aus der Wohnung gekommen und merkte gleich, dass auf der Straße weniger Menschen waren als normal. Ich war auf dem Weg zur Arbeit. Es roch komisch in der Luft. Ich sah sehr bald die ersten Geschäfte, vor denen Uniformierte standen und die Schaufenster zerbrochen waren. Und ich sah auch Menschen, die sich Sachen genommen haben aus den Geschäften und was bereits auf der Straße lag. So viel sie tragen konnten.
Ich bin nur zehn oder 15 Minuten weg gewesen und bin dann wieder zurück nach Hause gegangen. Als ich gegangen war, war es noch sehr ruhig gewesen. Und als ich zurückkam, haben alle gewusst, dass die Synagogen gebrannt haben, obwohl wir kein Radio hatten und kein Telefon. Meine Mutter und mein Bruder haben auf mich gewartet und waren sehr zerstört. Man hat bereits gewusst, was da ist. Meine Eltern waren ja geschieden und wir waren natürlich besorgt, wo der Vater war. Es hat Tage gedauert, bis er sich gemeldet hat. Er hatte sich versteckt. Es war sehr tragisch.
WDR: Die Erinnerung daran ist noch sehr klar?
Friedländer: Das kann man nicht vergessen. Das kann man nicht vergessen. Außerdem habe ich sehr viel darüber geschrieben. Das kann man nicht in drei Minuten erklären.
WDR: Sie sind mit 88 Jahren zurück nach Deutschland gekommen und sprechen viel mit jungen Menschen. Was sagen Sie denen?
Friedländer: Was gewesen ist, können wir nicht ändern. Ich bin zurückgekommen, um mit euch zu sprechen, euch die Hand zu reichen. Aber euch zu bitten, dass ihr die Zeitzeugen sein sollt, die wir nicht mehr sehr lange sein können. Was war, können wir wie gesagt nicht ändern. Es darf nur nie wieder geschehen. Es ist in eurer Hand, dass ihr vorsichtig seid.
WDR: Wir erleben gerade wieder schlimme Dinge: Davidsterne werden an Häuser geschmiert, israelische Flaggen heruntergerissen und Juden trauen sich nicht mehr auf die Straße. Wie fühlen Sie sich damit?
Friedländer: Menschen müssen respektiert werden - ganz egal, welche Religion sie haben. Denn ich sage immer: Wir sind alle gleich. Wenn wir geboren werden, ist es ganz egal, ob von einer jüdischen Frau oder von einer mit einer anderen Religion. Das Kind ist ernährt worden von der Mutter und weiß von gar nichts. Es hat keine Religion. Es ist ein Mensch. Seid Menschen! Respektiert Menschen!
WDR: Erschrecken Sie die Dinge, die gerade wieder passieren?
Friedländer: Das ist ganz entsetzlich. Ich hätte nie gedacht, dass das möglich ist. Das ist seit drei, vier Jahren wieder so.
WDR: Warum ist das so?
Anfang des Jahres erhielt Margot Friedländer der Bundesverdienstorden erster Klasse
Friedländer: Das weiß ich nicht. Man hätte von Anfang an mehr erklären müssen, was damals gewesen ist. So hat es damals auch angefangen. Dass die jungen Deutschen sich so schnell anstecken können von den anderen und aufgehetzt werden. Statt deutlich zu sagen, dass wir das nicht wollen. Weil wenn man hier lebt, muss man sich auch dem Sinn der Gesellschaft und was Deutschland will hier anpassen. Diese Migration, die gekommen ist, da sind welche schon als Kleinkinder mit Antisemitismus aufgewachsen und aufgehetzt worden. Ich bin nicht überrascht. Nur enttäuscht und traurig. Ich hasse nicht. Aber ich bin traurig.
WDR: Zumal Sie sich schon so lange darum bemühen, dass es mehr Verständnis gibt.
Friedländer: Ich brauche nur die Worte: Seid Menschen. Denn ich finde, wenn man Mensch ist, macht man sowas nicht. Dann respektiert man.
WDR: Brauchen wir wieder mehr Menschlichkeit?
Friedländer: Auf jeden Fall.
Das Interview führte Alexa Schulz für die Aktuelle Stunde. Zur besseren Verständlichkeit wurden Passagen des Gesprächs gekürzt und bearbeitet, ohne den Sinn zu verändern.
Das Interview senden wir am 09.11.2023 im WDR Fernsehen: Aktuelle Stunde.