Studiogespräch: Gregor Gysi, Die Linke, Bundestagsabgeordneter

Aktuelle Stunde 03.10.2023 UT Verfügbar bis 03.10.2025 WDR

Gregor Gysi (Die Linke): "Wir haben immer noch keine Einheit"

Stand: 03.10.2023, 20:01 Uhr

Gregor Gysi (Die Linke) zählt zu den prägendsten Ost-Politikern im wiedervereinigten Deutschland. Zum Tag der Deutschen Einheit bemängelt das frühere SED-Mitglied im WDR-Interview Versäumnisse und kritisiert die etablierten Parteien wegen des Erfolgs der AfD.

Herr Gysi, wie stehen wir denn 33 Jahre nach der Einheit da in Sachen Zusammenwachsen?

Man muss die positiven und die negativen Seiten sehen. Was ich den Ostdeutschen immer wieder sage, ist: Sie müssen doch genießen, dass sie eine viel größere Freiheit und Demokratie haben. Sie haben eine Währung, mit der man weltweit einkaufen kann. Das konnten sie mit der Mark der DDR vergessen. Dann sind viele Städte, viele Schlösser, viele Kirchen, viele Wohnungen sehr gut saniert worden. Das ist immer das Positive, das ich hervorhebe.

Und dann sage ich, dass wir nach wie vor keine Gleichstellung zwischen Ost und West haben. Dass das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gedemütigt wurde – was sich widerspiegelt in einem übergroßen Pegida, in einer zu deutlichen Wahl der AfD etc.. Und da muss uns etwas einfallen.

Was denn? Und wo kommt das her?

Das kommt daher, dass die Bundesregierung – wie ich immer sage – nicht aufhören konnte, zu siegen. Sie hat sich für die DDR nicht interessiert. Außer Stasi, SED und den Mauertoten gab es ja nichts. Aber die DDR war natürlich viel vielfältiger. Zum Beispiel waren wir bei der Gleichstellung der Geschlechter noch lange nicht am Ziel, aber wesentlich weiter als die Bundesrepublik. Das gilt auch für die Kinderbetreuung. Wir hatten auch eine Berufsausbildung mit Abitur und die Polikliniken. Ich will gar nicht weiter darauf eingehen.

Wenn man vier, fünf Sachen übernommen hätte, dann hätten die Ostdeutschen gesagt: „Naja, wir hatten zwar das falsche System, aber fünf Sachen sind so gut, dass sie jetzt in ganz Deutschland gelten.“ Und die Westdeutschen hätten erlebt, dass durch das Hinzukommen des Ostens sich ihre Lebensqualität in bestimmten Punkten erhöht.

Ich sage den Ostdeutschen immer: Wenn ich in Passau aufgewachsen wäre, würde ich nur denken: 'Ihr seid teuer, nörgelt herum und wählt komisch.' Weil ich ja nichts unmittelbar davon hatte. Und das muss eine Regierung wissen: Sie hätte das so organisieren müssen, dass es für beide Teile Deutschlands ein Gewinn gewesen wäre.

So ist es offensichtlich nicht passiert. Jetzt schauen Leute im Westen Richtung Osten und sagen: 'Diese Zustimmungswerte für die AfD, da laufen Menschen in Thüringen einem Faschisten hinterher, viele verachten die Demokratie – das finden wir jetzt aber auch nicht in Ordnung.'

Na, selbstverständlich nicht. Das macht mir sogar sehr große Sorgen. Auch in Anbetracht der Geschichte meiner Familie macht mir das besonders große Sorgen [Anmerkung der Redaktion: Gysi hat jüdische Vorfahren, seine Eltern waren als Kommunisten im antifaschistischen Widerstand engagiert]. Und ich kenne ja diese falschen Töne. Wissen Sie, was sie [Anmerkung der Redaktion: die AfD] ausnutzen und wo wir alle auch etwas falsch machen? Sie nutzen die Globalisierung aus. Und die Menschen haben Angst vor der Globalisierung. Und sie tun so, als ob sie mit nationalistischen Lösungen alles geregelt bekommen – auch alle Weltprobleme, egal ob ökologische Nachhaltigkeit, die Kriege und Konflikte oder auch die soziale Frage. Und das ist falsch.

Und die anderen Parteien, von der CSU bis zur Linken, wir sollten uns nicht immer überlegen, was die AfD so macht, damit sie erfolgreich ist, sondern was wir falsch machen, damit sie so erfolgreich ist. Da müssten wir mal einen Arbeitskreis bilden und intern wirklich darüber diskutieren.

Das sprengt natürlich unseren Rahmen. Haben Sie einen anderen Punkt? Repräsentanz ist ja immer so ein Thema.

Ja, natürlich. Wir [Anmerkung der Redaktion: die Ostdeutschen] stellen so 3,5 Prozent des Führungspersonals, sind aber 15 Prozent der Bevölkerung. Das ist sogar grundgesetzwidrig, weil alle Länder angemessen in Führungspositionen zu berücksichtigen sind. Es gibt jetzt einen Ostdeutschen beim Bundesverfassungsgericht. Der Bundesgerichtshof lässt noch auf sich warten. Das gilt aber auch für Ministerinnen und Minister und Staatssekretäre und Abteilungsleiter. Mein Gott, da kann sich die Regierung doch mal einen Ruck geben und sagen: Zumindest beim nächsten Mal machen wir mal einen Schlüssel, damit die Ostdeutschen sich auch repräsentiert fühlen – und zwar nicht nur durch Abgeordnete, sondern auch in den Führungsgremien.

Wobei einige Frauen  ja auch glänzende Karriere gemacht haben in der Politik.

Das stimmt. Eine Physikerin zum Beispiel [Anmerkung der Redaktion: Anspielung auf die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel]. Aber das ist so selten, dass Physikerinnen und Physiker in die Politik wechseln, ansonsten meistens Anwälte und Pastoren. Aber das ist ja egal. Ich habe ja nichts dagegen, Frauen und Männer sind völlig gleichberechtigt. Aber die Ostdeutschen sind insgesamt zu wenig vertreten. Aber ich will das, was ich lobend gesagt habe, gar nicht einschränken. Man muss wirklich beides sehen. Und das ist ein wirkliches Problem: Wir haben immer noch keine Einheit. Ich sage Ihnen das mal ganz offen: Sie können einen alten Ost-Berliner eher totschlagen, bevor er nach West-Berlin zieht. Und einen alten West-Berliner können sie auch eher totschlagen, bevor er nach Ost-Berlin zieht. Also da verzweifle ich auch daran, aber so ist die Situation.

Das Interview führte Susanne Wieseler für die Aktuelle Stunde im WDR Fernsehen.

Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde zur besseren Lesbarkeit sprachlich geglättet. Inhalt und Sinnzusammenhänge wurde aber nicht verändert.

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