Rund 700.000 Kindern werden jedes Jahr in Deutschland geboren. Nur, müsste man man hinzufügen. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war diese Zahl deutlich höher; zwischen 1961 und 1967 erreichte der Baby-Boom mit rund 1,3 Millionen Geburten seinen Höhepunkt.
Was uns in das Jahr 2024 führt: Die Babys von einst gehen nun in Rente und reißen immer tiefere Löcher in Arbeitsmarkt und Rentenkasse. Schon 2023 konnten dem dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln zufolge mehr als eine halbe Million Stellen nicht besetzt werden. Dabei sind die geburtenstärksten Jahrgänge noch da. Was kommt da auf uns zu? Und in welchen Berufe werden besonders viele Beschäftigte wegbrechen?
Daten-Recherche zur Altersstruktur von Beschäftigten
Diesen Fragen ist das SWR Data Lab in einer bundesweiten Daten-Recherche nachgegangen. Wir haben uns die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit für Nordrhein-Westfalen genauer angeschaut.
Innerhalb von zehn Jahren hat sich hier der Anteil der über 60-jährigen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auf fast elf Prozent und 780.000 Personen im Jahr 2023 verdoppelt. In 70 von 140 Berufsgruppen wird mehr als jeder oder jede zehnte Person voraussichtlich in den nächsten fünf Jahren aus dem Arbeitsleben scheiden.
Im Vergleich mit anderen Bundesländern steht NRW noch relativ gut da. Elf Bundesländer haben anteilig mehr über 60-Jährige. Nur Hamburg, Berlin, Bayern und Hessen kommen auf weniger.
Viele Ü-60-Jährige bei Ausbildungsberufen
Die Zahlen zeigen aber auch: Es gibt einige Berufe, in denen gerade hier im Westen in den kommenden Jahren große Lücken entstehen könnten - größere als anderswo. Allen voran bei den Ausbildungsberufen.
Unter den 15 Berufen mit dem größten Anteil über 60-Jähriger sind nämlich gleich zwei, die für die Ausbildung junger Menschen elementar sind: Lehrkräfte für die praxisnahen, berufsbildenden Fächer an Berufskollegs und Ausbildende in Betrieben.
Mehr als jede vierte dieser Lehrkräfte steht in NRW vor dem Rentenalter - so viele wie in keinem anderen Bundesland: Dazu kommt jede sechste betrieblich ausbildende Fachkraft. Mit dem Anspruch von Politik und Industrie, wieder mehr junge Menschen für Ausbildungsberufe zu begeistern, mag das nicht so recht zusammenpassen.
Viele Berufe mit Ü-60-Jährigen könnten sich verändern
Einige der Berufe mit den meisten älteren Beschäftigten werden sich wohl mit dem technischen und gesellschaftlichen Fortschritt ohnehin verändern: Viele Aufgaben von Stenotypisten und Übersetzenden kann Künstliche Intelligenz schon jetzt.
Selbstfahrende LKW, Bagger, Taxis, Busse und Straßenbahnen sind auf deutschen Straßen perspektivisch zumindest denkbar. Bis die Technik aber marktfähig, und vor allem, bis die Infrastruktur gebaut sein wird, könnten viele Jahre ins Land gehen. In der Zwischenzeit stellt sich die Frage, wer diese wichtigen Fahrzeuge steuern wird, wenn ein Fünftel der Fahrenden bald ausscheidet.
Andere Berufe könnten an Bedeutung verlieren: Vielleicht geben in Zukunft weniger Menschen ihre Hemden noch in die Reinigung, in Zeiten von Remote Work und aufgebrochenen Büro-Dresscodes. Und Schuhe oder Hosen lassen viele nicht mehr beim Schneider flicken, wenn man sie für das gleiche Geld bei Shein oder Primark nachkaufen kann.
Die Kirche, wo in NRW mehr als ein Viertel der Beschäftigten 60 Jahre alt oder älter sind, verliert im Leben vieler Menschen zunehmend an Bedeutung. Hauswirtschaftskräfte (17,7 Prozent über 60) und Gebäudetechniker (20,1 Prozent) wie Elektrotechniker oder Hausmeister bleiben gerade für soziale und öffentlichen Einrichtungen aber unverzichtbar.
System Berufskolleg wird "an die Wand gefahren"
Der drohende Ausbildermangel scheint in jedem Fall eines der drängendsten Probleme zu sein: Hier gibt es Anstiege von 14 auf 27 Prozent (Lehrkräfte) und 9 auf 17 Prozent (betrieblich Ausbildende) bei den über 60-Jährige in nur zehn Jahren.
Für Olaf Schmiemann kommt Dringlichkeit der Zahlen nicht überraschend: "Das System Berufskolleg wird mit Schwung und Anlauf an die Wand gefahren", sagt der stellvertretende Landesvorsitzende des VLBS, jenem Verband, der die Lehrkräfte an Berufskollegs vertritt.
Dass Lehrkräfte fehlen, ist lange bekannt
Olaf Schmiemann ist stellvertretender Landesvorsitzender des VLBS.
Seit Jahren gebe es diese Prognosen, von der Politik selbst angestellt. Erst im vergangenen Jahr hat das Ministerium für Schule und Bildung für Berufskollegs in NRW den Lehrkräftemangel für 20 Jahre vorausberechnet. Demnach fehlen ab dem Schuljahr 2029/30 mehr als 2.000, ab 2035/36 mehr als 6.000 Lehrkräfte für alle Fächer, auch allgemeinbildende. Für jedes der 360 Berufskollegs würde das etwa 17 fehlende Lehrkräfte bedeuten.
"Das Land nimmt das hin", sagt Schmiemann. Er würde als Schulleiter an seinem Berufskolleg in Witten gerne sofort damit beginnen, mehr Lehrkräfte im Hinblick auf die bevorstehenden Verrentungen einzustellen.
Immer mal wieder würden sich Interessenten aus der Industrie melden, die ihre langjährige Berufserfahrung gerne an junge Menschen weitergeben würden. "Denen muss ich dann sagen: Mal schauen, welche Stellen ich im nächsten Jahr zum 1. August zugewiesen kriege", betont Schmiemann. Schließlich bestimmt das Schulministerium wie viele Lehrkräfte eingestellt werden.
Ungleichbehandlung von allgemeinbildenden und beruflichen Schulen?
Sein großer Kritikpunkt: Obwohl man in der Landesregierung um den bevorstehenden Kollaps wisse, würden Lehrkräfte nach derzeitigem und nicht nach künftigem Bedarf eingestellt werden. Dabei werde eine Lösung bereits an Gymnasien praktiziert, erklärt Schmiemann: Sogenannte Vorgriffsstellen.
Gymnasien stellen jetzt mit Blick auf die Rückumstellung auf G9 in einigen Jahren Lehrkräfte ein. Sie werden solange dorthin abbeordert, wo der Lehrermangel besonders groß ist, etwa an Grundschulen.
Warum also nicht mit Weitblick auch Berufsschullehrkräfte einstellen und sie in fünf Jahren zurückholen? Dafür sei kein Geld da, habe man als VLBS immer wieder bei Haushaltsverhandlungen von der Politik zu hören bekommen, erzählt Schmiemann, für den das Problem tiefer liegt: "Allen öffentlichen Bekenntnissen zum Trotz gibt es noch immer keine Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung", sagt er.
Die Industrie- und Handelskammern (IHK) NRW sagen auf Anfrage, es brauche eine konkrete "Stärkung des gesellschaftlichen Stellenwerts der beruflichen Bildung", die im Schulsystem auch sichtbar sei, "wirklich gelebt" werde. Um dem entstehenden Mangel an Berufsschullehrkräften, gerade im gewerblich-technischen Bereich, zu begegnen, müsste aus Sicht der IHK NRW "eine Priorisierung der dualen Fachklassen bei der Verteilung der Lehrkräfte" erfolgen. Zudem für Ausbildung von Lehrkräften und Quereinsteigern attraktivere Anreize geschaffen werden.
Schmiemann würde zum Beispiel bei der Vergütung ansetzen. "Jemand, der 20 Jahre Berufserfahrung bei Daimler vorzuweisen hat, bekommt in der Schule wieder ein Einstiegsgehalt. Er kann aber ganz anders aus der Praxis berichten. Da müsste man schon ein Stück weit honorieren", erklärt er.
Nur sind Quereinsteiger aus der Industrie auch diejenigen, die in den nächsten Jahren als potenzielle Ausbilder in Betrieben fehlen könnten.
Viele Regionen von NRW vom drohenden Ausbildermangel betroffen
Kombiniert man die Zahlen beider Berufe, wird in einigen Regionen der Ernst der Lage für Betriebe und Industrie deutlich: In den Kreisen Soest, Wesel und Viersen ist knapp jeder Dritte über 60 Jahre alt. Nahezu im gesamten Münsterland, Teilen Ostwestfalens, im westlichen Sauerland und sogar in großen Städten wie Wuppertal und Solingen hört fast jeder Vierte bald auf.
Von den IHK NRWs heißt es: "Die Zahlen spiegeln auch unsere Erfahrungswerte wider; viele aktive Ausbilder werden in den kommenden zehn Jahren aus dem Erwerbsleben ausscheiden." Dennoch werde bereits in vielen Unternehmen gegengesteuert, wo junge Fachkräfte als Ausbildungsbeauftragte eingebunden werden würden. Zudem sei die Zahl der Fachkräfte, die eine Qualifikation als Ausbilder erwerben, in den vergangenen Jahren "konstant hoch".
Viele neue Berufsschullehrkräfte stehen wiederum nicht in den Startlöchern. Als Konsequenz fürchtet Schulleiter Schmiemann, dass Ausbildungsberufe weiter geschwächt werden: "Wenn ich in Witten niemanden mehr habe, der angehende Industriemechaniker unterricht, muss ich sie nach Hattingen schicken." Nicht nur könnten künftig duale Klassen auf mehr als 30 Personen anwachsen. "Betriebe könnten sich fragen: Bilde ich überhaupt noch aus, wenn der Azubi so weit fahren muss?"
Bei einigen Berufen schneidet NRW verhältnismäßig gut ab
Während die Aussichten bei den Ausbildungsberufen eher düster sind, werden im Vergleich mit anderen Bundesländern in den kommenden Jahren relativ wenige Erziehende und Sozialpädagogen, Alten- und Krankenpflegende, angestellte Ärztinnen und Zahnärzte oder Beschäftigte in der Notfallrettung aus NRW in Rente gehen.
Nur in einigen ländlichen NRW-Kreisen sind mehr als zehn Prozent der Beschäftigten in Gesundheits- und Sozialberufen über 60 Jahre alt. Was aber keinesfalls bedeutet, dass die Lage dort entspannt ist. Die Bundesagentur für Arbeit klassifiziert Pflegeberufe als Engpassberuf. Auch, weil die Zahl der Menschen, die auf Pflege angewiesenen sind, künftig immer weiter steigen wird.
Unsere Quellen:
- Bundesagentur für Arbeit (auf Anfrage des SWR Data Lab)
- Statistisches Landesamt NRW
- Statistisches Bundesamt
- IW Köln
- Gespräch mit Olaf Schmiemann vom VLBS
- IHK NRW