Kampf gegen Antisemitismus: "Im Jugendalter sind Einstellungsmuster noch revidierbar"

Stand: 26.11.2022, 15:27 Uhr

Schüsse auf die Alte Synagoge in Essen: Straftaten mit antisemitischem Hintergrund besorgen die Menschen in NRW. Präventionsarbeit muss im Jugendalter einsetzen, sagt der Leiter der Beratungsstelle ADIRA, Michael Neumann.

Vergangenen Freitag gab es Schüsse auf die Alte Synagoge in Essen und weitere antisemitische Straftaten im Ruhrgebiet. Im WDR-Interview sagt Michael Neumann, Sozialpädagoge und Leiter der Beratungsstelle ADIRA in Dortmund: "Antisemitismus wird verharmlost oder bagatellisiert." Was man tun kann.

WDR: Wie zeigt sich Antisemitismus im Alltag? Was schildern Betroffene?

Michael Neumann: Antisemitismus ist für viele Betroffene ein alltagsprägendes Phänomen. Es pendelt zwischen subtilen Andeutungen, Stereotypen, aber auch offenem Hass bis hin zu offenen Bedrohungslagen. Betroffene machen sehr unterschiedliche Erfahrungen, die in allen gesellschaftlichen Räumen auftreten können. In der Schule, auf der Arbeit, im öffentlichen Raum.

WDR: Wie können Sie Betroffenen helfen?

Neumann: Das kommt darauf an, was Betroffene möchten. Vielen ist es erst einmal wichtig, darüber zu sprechen - in einem geschützten Raum, wo diese Erfahrungen ernst genommen werden. Denn oftmals wird Antisemitismus verharmlost oder bagatellisiert. Im zweiten Schritt wird geprüft, ob zum Beispiel eine Straftat vorliegt. Wir haben auch die Möglichkeit, Unterstützungsangebote für die rechtliche Begleitung zu machen. Oder wir versenden Beschwerdebriefe. Wir machen aber immer nur das, was die Betroffenen machen möchten.

WDR: Seit Jahren wird Präventionsarbeit geleistet. Weshalb sind antisemitische Stereotype immer noch präsent?

Neumann: Sie haben Recht, Präventionsangebote wurden mehr in die gesellschaftliche Breite getragen. Dennoch ist Antisemitismus noch ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es betrifft viele Milieus und Schichten. Antisemitismus ist attraktiv, weil er ein vermeintliches Deutungsangebot ist - eine Form, sich gesellschaftliche Krisen zu erklären. Das macht es schwierig, Antisemtismus zurückzudrängen. Hinzu kommt auch, dass es wenig Wissen über das jüdische Leben in unserer Gesellschaft gibt. Viele Bilder sind veraltet. Diese Vorstellungen sind schwer aufzubrechen.

Sie geben viele Workshops in Schulen. Das ist natürlich wichtig. Aber ist die Prävention nicht auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe?

Neumann: Wir richten uns mit unseren Bildungsangeboten an alle. Aber in der Realität sind wir natürlich an Schulen. Dort spielen sich auch viele antisemitische Vorfälle ab. Und es ist einfacher, mit Jugendlichen Präventionsarbeit zu machen als die Stereotype, die Erwachsene über Jahre verinnerlicht haben, aufzubrechen. Da gibt es auch Grenzen der Aufklärung. Im Jugendalter sind bestimmte Einstellungsmuster dagegen noch reflektierbar und revidierbar. Aber ja, Aufklärung ist eine Querschnittsaufgabe. Eigentlich müssten Angebote viel mehr Menschen erreichen.

Die Fragen stellte Judith Schulte-Loh.

Über dieses Thema berichtete der WDR am 26.11.2022 im WDR 5 Morgenecho.

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