Debatte über Inflation der Einser-Abis: Für Schüler ein Schlag ins Gesicht

Stand: 22.02.2023, 19:28 Uhr

In Pandemie-Zeiten hat sich der Anteil der Einser-Abis in NRW deutlich erhöht. Das hat eine Debatte über Corona-Gefälligkeiten und Studierfährigkeit ausgelöst. Leidtragende sind die Schüler.

Von Timo Landenberger

Ida Görlitz ist 19 Jahre alt. Im Amerikahaus NRW absolviert sie ein Freiwilliges Soziales Jahr, hilft bei der Organisation politischer Veranstaltungen. Vergangenes Jahr hat sie in Zülpich Abitur gemacht. Abschlussnote: 1,3. "Einfach war das nicht", sagt sie. "Wenn man sich anschaut, was wir in den Jahren während Corona alles mitgemacht haben."

Vor der Abschlussprüfung habe sie sich noch einmal richtig reingehängt, "um Themenbereiche aufzuholen, die wir im Unterricht nicht mehr geschafft haben." Jetzt muss sich Ida anhören, die gute Note sei ihr hinterhergeworfen worden, ein "Corona-Geschenk“. Das tue weh, sei ein Schlag ins Gesicht, sagt sie. "Damit wird man unserer Generation nicht gerecht."

Anteil der Einser-Abis stark gestiegen

Einer Statistik der Kultusministerkonferenz zufolge bestanden im vergangenen Jahr 3,2 Prozent aller Abiturientinnen und Abiturienten die Prüfung mit der Bestnote 1,0. Das sind 68 Prozent mehr als vor der Pandemie. Fast 30 Prozent schlossen mit einer Eins vor dem Komma ab, ebenfalls eine deutliche Zunahme. Corona-Gefälligkeit, Erfolg der Schulen, klügere Schülerinnen und Schüler? Und was heißt das für die Studierfähigkeit? Die Zahlen haben eine hitzige Debatte ausgelöst.

Vorsitzende Philologenverband Nordrhein-Westfalen

Sabine Mistler, Vorsitzende Philologenverband NRW

"Wenn wir uns hauptsächlich im Einser- und Zweierbereich bewegen, dann verliert das Abitur seine Aussagekraft und auch die Vergleichbarkeit", sagt Sabine Mistler Vorsitzende des Philologenverbands NRW, im WDR. Das führe unter anderem dazu, dass in manchen Studiengängen Vorkurse angeboten werden müssten, da die Studierfährigkeit trotz gutem Abi nicht gegeben sei.

Der Kölner Bildungsjournalist Armin Himmelrath ergänzt: "Die Abiturnote gilt als Zugangsberechtigung für bestimmte Studiengänge. Universitäten, die mit diesen Werten arbeiten, müssen ihre Anforderungen jetzt immer höher ziehen, damit das noch zur Auswahl taugt. Dann wird es schwieriger für diejenigen, die nicht zum oberen Drittel gehören."

Corona-Bonus von Lehrkräften und Politik?

Doch woher kommt der Anstieg? Haben die Lehrkräfte in Pandemiezeiten einen großzügigen Corona-Bonus verteilt? Durchaus vorstellbar, sagt Himmelrath. Und auch die Schulministerien der Länder seien bei der Anforderungen unter dem Vor-Corona-Niveau geblieben. Schließlich hatte die Politik stets versprochen, dass die Pandemie für die Schüler und Schülerinnen nicht zum Nachteil werden dürfe.

Allerdings sind mit 4,5 Prozent auch mehr Schülerinnen und Schüler durch das Abitur gefallen als vor der Pandemie. Daneben finden diejenigen, die gar nicht erst angetreten sind, in der Diskussion bislang kaum Beachtung. Ida Görlitz ist überzeugt: "Wir waren eigentlich mit der schlechteste Jahrgang in den letzten zehn Jahren, da sehr viele die Schule abgebrochen haben. Ich bin sicher, dass davon viele mit Ach und Krach das Abi geschafft hätten."

Das hätte den Gesamtschnitt deutlich relativieren können. Schließlich sei ihr Jahrgang mit 111 Schülerinnen und Schülern in die Oberstufe gestartet. Nur 58 davon hätten die Abiturprüfung abgelegt.

Bildungs-Schere geht weiter auseinander

Das zeige, dass die Auswirkunngen der Pandemie den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg verstärkt hätten, sagt Stephan Osterhage-Klingler, stellvertretender Vorsitzender der Lehrergewerkschaft GEW NRW. Der Anstieg guter Abiturnoten hingegen sei hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass seit der Einführung des Zentralabiturs eine deutlich gezieltere Vorbereitung auf die Prüfung möglich sei. "Das war aber auch vor Corona schon so", sagt Osterhage-Klingler.

Im Hinblick auf ein mögliches Studium habe die Pandemie sogar eher geholfen: "Abiturientinnen und Abiturienten, die unter Corona-Bedingungen Abi gemacht haben, haben gelernt, sehr selbstständig zu arbeiten, was eine gute Voraussetzung für Studium oder Beruf ist."